Die Pilgergraefin
Mohntrunk schien noch zu wirken. Obwohl die Depesche, die er dem Privatsekretär seiner Heiligkeit Papst Gregor XI. in Avignon auszuhändigen hatte, höchst dringlich war, beschloss er, seinem verletzten Knappen noch einen Tag Ruhe zu gönnen, bevor er die Reise fortsetzte.
Wie er die Zeit in diesem verlassenen Nest bis morgen verbringen sollte, war ihm indes noch unklar.
Vielleicht machte es Sinn, sich intensiver mit der Sprache der Italiener zu befassen. Für den Fall, dass seine Mission in Avignon nicht beendet sein würde und er noch weiter ins Land der Welschen reiten müsste, um dort den einen oder anderen Fürsten aufzusuchen und ihn für die Sache seines Herrn, König Charles V., einzunehmen. Sein gutes Gedächtnis und seine Begabung für Sprachen hatten ihn nebst seinen ritterlichen Tugenden und der Kraft seines Schwertarmes zu dem gemacht, was er war: der Kurier des Königs.
Zwar zog er einen spannenden Zweikampf dem Studium fremder Sprachen vor. Doch ebenso furchtlos wie er jeden Gegner im Duell bezwang, kannte er auch keine Angst vor fremden Zungen und war gewiss, sich in der Sprache der Welschen, dank des Buches, das der Sekretär des Kardinalprimas ihm mitgegeben hatte, binnen kürzester Zeit zu vervollkommnen. Immerhin war er seit seiner Knabenzeit des Lateins mächtig, auf dessen Studium sein Vater bestanden hatte, der in dem jüngsten Sohn bereits einen Monsignore oder gar einen Bischof gesehen hatte. Einige Jahre hatte er sogar in einer Klosterschule verbringen und dortselbst Studien betreiben müssen. Einerseits hatte es ihm gefallen, eine umfassende Bildung zu erhalten. Andererseits hasste er das mönchische Leben. Viel zu tatkräftig war er, um sich in der Abgeschiedenheit seiner Zelle der Kontemplation zu widmen. Und außerdem wollte er kein enthaltsames Leben führen.
Robyn war nichts anderes übrig geblieben, als dem Vater zu gehorchen. Obwohl ihm schon damals klar gewesen war, dass er niemals ein geistliches Amt übernehmen würde. Er sehnte sich nach Aufregung und Abenteuern – und davon hatte er als Kurier des Königs so viel gehabt, dass er, wäre er ein Dichter, gewiss einen Roman hätte verfassen können.
Nein, er würde nie ein Mann der Kirche sein – das lag nicht in seiner Natur –, selbst wenn man heutzutage des Öfteren hörte, dass die geistlichen Herren es nicht sehr genau nahmen, was die fleischlichen Gelüste und andere betraf.
Robyn baute darauf – und das war seine einzige Hoffnung –, vom König mit einem Lehen für seine Kurierdienste bedacht zu werden oder gar mit dem Grafengürtel.
Er erhob sich von seinem Strohsack und verließ die Kammer, um sich am Brunnen zu erfrischen und anschließend bei einem kräftigen Frühmahl im Buche des Kardinals zu lesen. Es stammte von einem gewissen Petrarca, der als einer der größten Poeten des Welschlandes galt.
So es denn in dieser Bruchbude überhaupt ein anständiges Frühmahl gibt, dachte Robyn resigniert.
7. KAPITEL
L obgesänge auf den Herrn von Himmel und Erde singend, hatten sich die Pilger in der Scheune versammelt.
Ein Blick nach oben zum Dach verriet Leonor, dass sie keinesfalls trocken dem Unwetter entgehen würden. Schon zerhackten Blitze die pechschwarze Wolkenwand, die sie durch die Spalten im Gebälk erkennen konnte. Hier im Inneren der Scheune war die angestaute Hitze schier unerträglich.
Leonor kratzte sich über den Nacken und den Rücken, so weit sie diesen mit ihren Fingern erreichte. Seit sie in Walburgas Kleider aus grau-braunem Sackleinen geschlüpft war, juckte es sie am ganzen Körper. War es nur das ungewohnte raue Tuch – schließlich war sie an feinstes Linnen, Sammet und Seide gewöhnt –, oder hauste gar Ungeziefer in dem unkleidsamen Kittel? Schon hatte sie mehrere rötliche Stellen auf ihrer sonst immer makellosen Haut entdeckt, die Anna mit einer nicht gerade wohlriechenden Tinktur betupft hatte. Kein Vergleich mit der Rosen- oder Veilchenessenz, die sie sonst zu benutzen pflegte.
Immerhin hatte der Juckreiz nachgelassen, und die Schwellungen waren zurückgegangen. Und was waren schon ein paar rötliche Stellen, hervorgerufen durch Ungeziefer, im Vergleich zu roten Striemen und blauen Prellungen, die sie unter den grausamen Händen des Barons zu erwarten gehabt hätte?
Pater Anselm stimmte eine Hymne an, die alle Heiligen und Märtyrer pries. Und da Leonor wusste, wie zahlreich die Schar der seligen Männer, Frauen und Jungfrauen war, die sich mit Leib und Seele der Sache
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