Die Pilgergraefin
sodass Leonor nun mit letzter Kraft „Tarras! Tarras!“ rufen konnte.
Erneut verschloss der Angreifer ihr die Lippen und schob ihr den Kittel weiter hoch. Dabei stieß er Laute aus, die einem Grunzen glichen. Verzweifelt wand Leonor sich unter ihm, strampelte mit den Beinen, um ihn abzuwehren. Sie hatte von Marga, die auf so tragische Weise bei dem Scheunenbrand ums Leben gekommen war, erfahren, was es bedeutete, wenn ein Mann einer Frau Gewalt antat, denn genau das war Marga mehrmals widerfahren, und dieses Schicksal wollte sie auf keinen Fall erleiden. Und so biss Leonor den Mann, als er seinen Griff ein wenig lockerte, so fest sie konnte, in einen seiner Finger.
Ein erneutes Grunzen war die einzige Reaktion, aber ihre Gegenwehr hatte offensichtlich Wut in ihrem Angreifer entfacht, denn er packte ihren Kopf und schlug ihn mehrmals heftig auf den harten Boden. Fast glaubte Leonor, die Besinnung zu verlieren, da hörte sie auf einmal ein gefährliches Knurren, gefolgt von einem Schmerzensschrei.
Tarras!
Leonor spürte, wie die Last des Mannes von ihr gezogen wurde. So schnell sie konnte, kam sie auf die Füße und rannte blindlings um ihr Leben.
Im gespenstischen Halbdunkel, das nur vom fahlen Licht des Mondes erleuchtet wurde, irrte sie durch das Gewirr der Gassen, bis sie schließlich einen Platz mit einer Kirche erreichte. Kurz blieb sie stehen, horchte, ob sie verfolgt wurde, und schlich dann im Schatten der Häuser, die die menschenleere Piazza umgaben, zum Portal des Gotteshauses.
Verschlossen!
Aber wo sonst sollte sie Schutz suchen, wenn nicht in einer Kirche? Gewiss war kein Mann so verwerflich, eine Frau im Haus des Herrn zu schänden – oder doch?
Geduckt umrundete sie das Gebäude, bis sie an eine Seitenpforte kam. Erleichtert atmete sie auf, als sich deren Knauf drehen ließ und die Tür mit einem Ächzen aufging. Schnell schlüpfte sie ins Innere der Kirche und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Die wenigen Strahlen des Mondes, die durch die Buntglasfenster fielen, erleuchteten den Innenraum kaum – im Gegenteil, sie verursachten dunkle Schatten, die sich auf furchterregende Weise wie Dämonen zu bewegen schienen.
Besser Dämonen als ein Wesen aus Fleisch und Blut, das mir Gewalt antun will, dachte Leonor und kauerte sich hinter dem Altar zusammen. Sie sprach ein Dankgebet und hoffte, dass der Herr in seinem Haus seine schützende Hand über sie halten würde. Obwohl sie zu Tode erschöpft war, zwang sie sich, wach zu bleiben, bis die ersten Strahlen der Morgensonne das Innere der Kirche erhellten.
Von den vielen Stunden in unbequemer Stellung ganz steif geworden, rappelte sie sich auf und tastete nach ihrem Bündel. Nichts! Da wurde ihr klar, dass sie all ihre Habseligkeiten auf der Flucht vor ihrem Angreifer in der schmutzigen dunklen Gasse zurückgelassen haben musste. Sogar die Geldkatze fehlte! Nun besaß sie nichts mehr außer dem, was sie am Leibe trug – und das stank, wie sie angewidert feststellen musste, nach dem Inhalt des Nachttopfs. Ob sie die Gasse wiederfände, wo sie das Bündel verloren hatte? Aber selbst wenn, hätte sich wahrscheinlich schon längst jemand des Beutels bemächtigt, und außerdem widerstrebte es ihr, den Ort des schrecklichen Geschehens noch einmal aufzusuchen.
Dann fiel ihr Tarras ein, der sie gerettet hatte. Würde er sie wieder aufspüren, so wie er es in den Bergen schon zweimal getan hatte? Eine Weiterreise ohne das treue Tier konnte sie sich nicht mehr vorstellen.
Leonor ging um den Altar herum, kniete kurz vor dem Kreuz, um erneut ein Dankgebet für ihre Rettung zu sprechen, und verließ durch den Seiteneingang das Gotteshaus.
Suchend blickte sie sich um und rief und pfiff nach dem Hund. Und sah gar nicht, dass er … Ein Stupfer an der Hüfte ließ sie nach unten blicken.
„Tarras!“
Der brave Hund saß neben der Pforte und sprang nun begeistert wedelnd auf. Leonor schloss ihn in die Arme, streichelte seinen Kopf und dankte ihm dafür, dass er sie gerettet hatte.
So schnell wie möglich wollte sie die Stadt, deren Namen sie nicht einmal kannte, wieder verlassen. Der Ort war ihr sogleich, als sie sich ihm näherte und an dem Galgenhügel vorbeigegangen war, bedrohlich erschienen. Doch bevor sie ihre Reise fortsetzte, musste sie sich erst mit dem Nötigsten ausstatten – wer weiß, wann sie wieder eine Stadt oder ein Dorf erreichte.
Auf dem Platz vor der Kirche öffneten bereits einige Händler ihre Stände und
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