Die Pilgergraefin
gar Mitleid erregende Gestalt: eine Frau, in Lumpen gehüllt, die einen Säugling oder ein Kleinkind auf ihrem Schoß hielt. Sogleich musste Leonor an ihren kleinen Sohn denken und hielt inne, um die Bettlerin anzusprechen. Doch die Frau verstand sie nicht, streckte nur die Hand aus in einer bittenden Geste, der sich Leonor nicht entziehen konnte. Sie kramte in ihrer Geldkatze und förderte eine Münze zutage, die sie der, wie sie glaubte, verarmten jungen Mutter reichte. Gierig grapschte die Frau nach dem Kupferpfennig und murmelte einige Worte in einer Sprache, die Leonor nicht verstand. Froh, etwas Gutes getan zu haben, setzte sie ihren Weg fort. Dass die Bettlerin, kaum dass sie außer Sichtweite war, das aus nichts als einem Lumpenbündel bestehende „Kind“ unter den Arm klemmte und in Richtung einer Schenke verschwand, bekam sie nicht mehr mit.
Sie durchschritt das Stadttor und erreichte bald eine Gasse, in der Brot, Würste, Schinken, Früchte, Naschwerk und andere Leckereien feilgeboten wurden. Hier erstand sie einen kleinen Vorrat an Esswaren, die nicht so leicht verderben würden. Ein gutmütiger Schlachter warf Tarras sogar ein Stück Pansen zu, das dieser sogleich hungrig verschlang. Auf ihre zerschlissenen Schuhe deutend, erkundigte sich Leonor mit Gesten nach der Gasse der Schuhmacher und begab sich dorthin, nachdem der Mann ihr den Weg gewiesen hatte.
Die Schuster waren schon dabei, ihre Stände zu schließen, doch gelang es Leonor bei einem von ihnen, noch ein Paar solide Schuhe, die sie gewiss bis nach Rom bringen würden, zu erwerben. Sie steckte sie in ihren Beutel, um sie später gegen ihr zerschlissenes Schuhwerk zu tauschen.
Langsam senkte sich die Dunkelheit über die kleine Stadt, und hie und da wurden in Halterungen steckende Fackeln an den Häusern entzündet, deren Licht es indes kaum vermochte, die enge, schmutzige Straße zu erhellen. Der Gestank von Fäkalien verpestete die Luft, und Leonor raffte den Saum ihres Kittels, damit er nicht vom Unrat der Gasse beschmutzt wurde. Irgendwo maunzte eine läufige Katze, deren Liebesgeschrei alsbald vom Bellen eines Hundes übertönt wurde.
Leonor erkundigte sich mit Gesten sowie auf Latein und Französisch bei den Leuten, die ihr in den Gassen entgegenkamen, nach einer Herberge. Eine Frau verstand schließlich, was sie wollte, und bedeutete ihr mit vielen lebhaften Handbewegungen und einem Wortschwall den Weg.
Leonor bedankte sich mit einem Lächeln und wandte sich in die Richtung, die die Frau ihr gewiesen hatte. Die Gassen wurden immer schmaler, kaum ein Lichtschein durchbrach noch die Finsternis. Keine Menschenseele war mehr auf der Straße zu sehen, und die Läden vor den Fenstern der geduckten Häuschen waren zugeschlagen. Hier sollte sich eine Herberge befinden? Angst überkam sie. Denn die Dunkelheit in dieser Gasse, in der es erbärmlich nach aller Art von Unrat stank, war viel erschreckender als das Dunkel der Nacht in der Natur. Und gab es hier auch keine Wölfe oder anderes wildes Getier, so lag dennoch ein Hauch von Unheil in der Luft, der sie erschauern ließ. Ob sie wohl an irgendeine Tür klopfen und um Einlass bitten sollte? Doch sie verstand die Sprache der Menschen nicht, und wie sollte sie ihr Anliegen erklären?
Ein unheimliches Geräusch in der ansonsten totenstillen Gasse ließ sie zusammenfahren, bis ihr klar wurde, dass es das Geschrei zweier liebeskranker Kater war. Aber auch Tarras hatte die Kampflaute der Katzen gehört und stürmte davon.
In diesem Augenblick vernahm Leonor ein anderes Geräusch – das von menschlichen Schritten. Erleichtert fuhr sie herum, um den späten Passanten um Hilfe zu bitten, doch im Licht der Laterne, die der Mann trug, sah sie entsetzt, dass er sie lüstern angrinste. Noch bevor sie die Flucht ergreifen konnte, hatte der Mann sie auch bereits gepackt, sodass sie in den Schmutz und Unrat der Gasse stürzte und vor lauter Schreck ihr Bündel fallen ließ.
Schon schob der Unhold ihr die Röcke hoch. Leonor wollte um Hilfe schreien, aber eine stinkende Hand verschloss ihr den Mund.
Warum nur war Tarras jetzt nicht an ihrer Seite? Er hätte den Unhold in die Flucht geschlagen.
Plötzlich traf sie eine übel riechende Brühe – und wohl auch ihren Angreifer, der kurz von ihr abließ und einen lauten Fluch ausstieß. Doch der Inhalt des Nachttopfes, der sich über ihn ergossen hatte, hielt ihn nicht von seinem bösen Vorhaben ab. Immerhin hatte er die Hand von ihrem Mund genommen,
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