Die Pilgergraefin
Leonor.
„Haltet ein, Schwester Clara!“, rief sie, und im selben Moment buckelte das gepeinigte Tier. Entsetzt sah sie, wie die Nonne durch die Luft flog und in den Morast geschleudert wurde, wo sie wie ein riesiger schwarz-brauner Käfer auf dem Rücken liegen blieb – und langsam versank.
Vorsichtig tippelte der Esel zurück aus der Gefahrenzone, und Leonor stand einige Augenblicke stocksteif vor Schreck da.
Das gurgelnde Geräusch des Morasts riss sie aus ihrer Starre. Wenn sie nichts unternahm, würde die Ordensfrau vom Schlamm verschlungen werden. Sie musste ihr zu Hilfe kommen, ohne sich selbst zu gefährden. Doch wie?
„Schwester Clara, haltet aus!“, rief sie der Nonne zu, während es fieberhaft in ihrem Kopf arbeitete. Sie blickte sich um und entdeckte einen kräftigen Stecken. Er war lang genug, sodass die Nonne ihn mit ihren Händen erreichen konnte. Wenn Schwester Clara ihn packte …? Aber wäre sie selbst stark genug, um die Verunglückte aus dem Sumpf zu ziehen? Wohl kaum. Eher bestand die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie ein Opfer des Morasts wurde.
Da kam ihr eine Idee. Wenn der Esel mitspielte …
Sie ergriff den starken Ast und streckte dessen Ende der Ordensfrau entgegen, die schon fast bis zur Hüfte vom Schlamm verschlungen worden war – und seltsamerweise statt frommer Gebete heftige Flüche ausstieß, wobei sie sich auch noch heftig bewegte, was ihre missliche Lage nur verschlimmerte.
„Nun tut doch endlich was, junger Herr“, kreischte Clara. „Oder wollt Ihr mein Leben auf Eurem Gewissen haben?“
„Ergreift den Ast, sonst vermag ich Euch nicht zu helfen!“, rief Eleanor der Nonne zu, woraufhin diese endlich den Stecken packte.
Nun wandte sich Leonor dem Esel zu und sprach leise und beruhigend auf ihn ein. Dann schwang sie sich auf seinen Rücken, das andere Ende des Steckens fest in der Hand, und bewegte das Tier dazu, langsam Schritt für Schritt zurückzugehen. Zuerst zögerlich, dann immer gehorsamer tat der Esel, was sie von ihm wollte.
Laut bellend umkreiste Tarras das Grautier, und Leonor fragte sich, ob er es etwa anfeuern oder ihm zu verstehen geben wollte, seine gelinde gesagt wenig freundliche Herrin lieber ihrem Schicksal zu überlassen.
Doch in der Tat, ihr Plan schien zu gelingen. Spanne um Spanne befreite sie die unglückselige Ordensfrau aus ihrer misslichen Lage, die zu einem grausamen Tod geführt hätte.
Schließlich lag Schwester Clara ächzend und stöhnend – aber immer noch leise fluchend – und über und über mit Schlamm bedeckt auf dem trockenen Boden.
Leonor sprang vom Esel, strich ihm über die weichen Nüstern, weil er so brav mitgemacht hatte, seine Besitzerin zu retten, und beugte sich dann über die Ordensfrau. „Geht es Euch gut, Schwester Clara?“, erkundigte sie sich besorgt.
„Zum Teu…“, blaffte die Nonne. Fuhr dann jedoch mit salbungsvoller Stimme fort: „Dem Himmel sei Dank! Und natürlich Euch, junger Herr. Das werde ich Euch nie vergessen. Hoffentlich kann ich Euch Eure Güte dereinst vergelten.“
„Keine Ursache, Schwester Clara. Ich habe nur meine Christenpflicht getan. Dankt lieber Eurem Esel, indem Ihr ihn zukünftig besser behandelt. Ohne ihn wäre mir Eure Rettung nicht gelungen.“
Während die Nonne scheel auf das brave Tier blickte, fühlte Leonor sich etwas leichter ums Herz. Vielleicht war es ihr ja mit dieser guten Tat gelungen, ein wenig von ihrer Schuld abzutragen.
Der Esel indes ließ die langen Ohren hängen, während er sich an einigen Grashalmen gütlich tat, um seine kärgliche Kost aufzubessern.
19. KAPITEL
I m Jagdschloss des Herzogs von Mailand war es hoch hergegangen und der Ankunft der drallen Kurtisane weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden als der des königlichen französischen Kuriers. Trotzdem war es Robyn am nächsten Tag gelungen, zum Privatsekretär Seiner Durchlaucht vorgelassen zu werden und diesem das Sendschreiben zu überreichen, das Monsignore Petrocelli ihm anvertraut hatte.
Zu seiner großen Enttäuschung hatte man ihn wissen lassen, Herzog Gian Galeazzo Visconti wünsche, dass er eine Botschaft nach Rom bringe, und zwar an Kardinal Stefano aus dem einflussreichen Geschlecht der Colonna.
Also standen ihm weitere Tage im Sattel bevor, ehe er den Heimweg nach Frankreich antreten konnte. Es sei denn, er wählte den Weg über das Meer. Und obwohl er seit seiner stürmischen Überfahrt nach England Seepassagen verabscheute, beschloss er, nach Genua zu reiten und den
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