Die Pilgergraefin
wie er das Messer geworfen und den Baum getroffen hatte – und doch …
„Fürs Erste hast du das recht gut gemacht, Leon“, lobte er. „Aber ich denke, deinem Wurf fehlt es noch ein wenig an Kraft.“
Leonor nickte. Kein Wunder, dachte sie, immerhin bin ich ja ein Mädchen und kein Knappe, der täglich solche Übungen absolviert. Insgeheim war sie jedoch durchaus stolz auf sich. Gewiss hätten nicht viele Frauen den Baum so akkurat getroffen wie sie.
„Wohlan denn“, sagte Robyn, „mir scheint, diese Eiche ist zu dick und kaum zu verfehlen. Nehmen wir doch jene ins Visier.“ Geschickt warf er sein Messer, das in der Mitte des dünneren Stammes stecken blieb.
Leonor tat es ihm nach. Zwar traf ihr Wurfdolch dicht neben dem des Chevaliers auf den Baum, blieb indes nicht stecken.
„Diesem Feind hättest du im Ernstfall nur wenig Schaden zugefügt“, stellte Robyn fest, der die Wurftechnik wiederum genau beobachtet hatte. Irgendetwas an der Art, wie der Jüngling den Arm hob und das Messer warf, kam ihm seltsam vor. Hatte der Chevalier de Riberac ihm etwa beigebracht, das Messer in dieser Manier zu schleudern? Er trat näher zu dem Knappen und sagte: „Wenn du den Arm so hebst …“, er trat hinter Leonor und brachte ihren Arm in Position, „… wird dir ein kraftvollerer Wurf gelingen.“
Als Leonor die Hand des Ritters spürte, überlief sie ein seltsames Kribbeln. Nicht unangenehm – im Gegenteil. Der Chevalier war ja auch ein stattlicher Mann und sah mit seinen grau-grünen Augen, dem schmalen, markanten Gesicht und dem kastanienbraunen Haar sehr anziehend aus. Außerdem war er hochgewachsen und von schlanker, aber kraftvoller Statur.
Robyn hingegen dachte, wie dünn und zart der Arm seines Knappen sich doch anfühlte. Fast wie der einer Frau … Indes hatte der Junge Hunger und Not gelitten und war wohl deshalb so mager und feingliedrig. Er ließ ihn los, trat einen Schritt beiseite und forderte ihn auf: „Und nun probiere es einmal so, wie ich es dir gezeigt habe.“
Leonor versuchte, sich an das zu erinnern, was der Chevalier ihr demonstriert hatte. Doch irgendetwas verwirrte sie, und sie zögerte.
Erneut trat Robyn zu seinem neuen Schildknecht und veranschaulichte ihm die richtige Haltung des Armes.
Aber die Nähe des Ritters verunsicherte sie. Erst als er sie wieder losgelassen hatte, wagte Leonor den Wurf. Und tatsächlich, diesmal blieb das Messer im Baum stecken, kaum eine Handbreit entfernt von dem des Chevaliers.
„Du lernst schnell, Leon“, lobte Robyn. „Dieses Mal hättest du den Feind gründlich erwischt.“
Leonor war hocherfreut – vielleicht würde die verbesserte Wurftechnik ihr auf der gefährlichen Fahrt ja sogar einmal das Leben retten – und errötete prompt. Oje, was würde der Chevalier von einem Knappen halten, der rot wurde?
In der Tat war Robyn die Röte auf den bartlosen Wangen des Jünglings nicht entgangen. Wenn es nicht ganz und gar unmöglich gewesen wäre, dass eine junge Frau allein und schutzlos die Alpen überquert hatte, hätte er seinen hübschen Knappen gar für ein Mädchen gehalten …
Oder war er etwa einer der seltenen Menschen, die die Griechen Hermaphroditen nannten?
Eigentlich hatte Robyn nicht vorgehabt, die Nacht im Freien zu verbringen. Doch als der Tag sich neigte, war weit und breit kein Dorf oder Gehöft in Sicht, nicht einmal eine Scheune oder ein Schafstall, wo man Unterkunft finden konnte. Die Gegend war so karstig und unwirtlich, dass sie den Menschen keinen Anreiz bot, sich hier niederzulassen. Unmöglich, hier ein Auskommen zu finden. Er blickte sich nach einem Schlafplatz um. An einem Hang, auf dem ein wenig Gras und dürres Strauchwerk wuchsen, entdeckte er ein paar Wildziegen. In den Lüften darüber kreiste ein Adler. Würde er sich eine der jungen Ziegen greifen, oder waren sie bereits zu groß und schwer für ihn?
Auch Leonor sah sich um. Nach dem Sturz den Abhang hinunter und den Wurfübungen mit dem Chevalier fühlte sie sich erschöpft und zerschlagen. Wie gerne hätte sie jetzt ein warmes, mit Kräutern versetztes Bad genommen, so wie Anna es ihr oftmals bereitet hatte. Doch ihre getreue Kammerfrau war tot, niemals mehr würde sie ihre Liebe und Fürsorge erfahren, ebenso wenig wie die ihrer Mutter oder ihres Vaters, der von Raubgesellen dahingemetzelt worden war … Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie rasch wegwischte, ehe der Chevalier ihrer gewahr werden konnte.
„Eine recht trostlose Gegend ist das
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