Die Pilgerin von Montserrat
Kleidung aus und nahm sich aus ihrem Reisebeutel eine frische Bruche, eine Kukulle und ein Skapulier. Sie trat an das kleine Fenster der Zelle, das nach Südosten hinausging. Eiskalte Luft drang durch das gegerbte Ziegenleder herein. Draußen war es rabenschwarz, die Sichel des Mondes beleuchtete eine märchenhafte Landschaft. Über die Schlucht und die tiefer liegenden Berge hatte sich eine weiße Nebeldecke gelegt, aus der die Kuppen wie Katzenbuckel herausstanden. Im Osten machte sich der erste Schimmer des Tages breit. Teresa stand und konnte sich nicht satt sehen an dem Schauspiel. Der Streifen am Horizont wurde breiter, ein erster Sonnenstrahl brach daraus hervor. Jetzt erhob sich das Gestirn gleißend über den Wolken. Zwei Vögel mit Riesenschwingen kamen von Süden herangeflogen und stießen krächzende Laute aus. Das mussten Mönchsgeier sein.
Teresa fror, sie zog sich ihren Mantel an und verließ die Zelle, darauf achtend, dass sich die Tür leise hinter ihr schloss. Sie trat aus dem Gebäude, das den Mönchen als Dormitorium diente. Das Kloster mit seiner Kirche aus gelblichem Gestein, dem gotischen Kreuzgang und den Nebengebäuden klebte tatsächlich am Rand der Schlucht, die sie gestern, bei Sturm, Regen und Schnee, weiträumig umgangen hatten. Nahe der Pforte stand eine Statue des heiligen Benedikt. Aus der Kirche drang der Gesang der Mönche, die ihre Laudes abhielten. Die Luft war sehr kalt, aber von einer Klarheit, die Teresa noch nie erlebt hatte. Die Sonne stand im Osten über dem Nebelfeld, die weißen Schwaden begannen allmählichzu zerfließen. Teresas Blick wurde frei für die Gipfel, die bizarren Felsgebilde, die Risse und Vertiefungen im Gebirge, auf die Ebene, und ganz in der Ferne sah sie das Meer bläulich schimmern. Eine tiefe Ruhe überkam sie. Hier stand sie, ein einfaches Menschenkind, mit sich und der Welt im Einklang. Nichts Böses konnte mehr geschehen, alles war von Gott gewollt. Etwas berührte ihren Arm, sie fuhr erschrocken herum. Da stand Froben und lächelte sie an.
»Ach, du bist es, Vater! Ich habe schon gedacht …«
»… es wäre der Arm des Bösen? Der reicht allerdings weit, liebe Tochter. Schau nicht in den Abgrund, er wird das ›Schlechte Tal‹ genannt. Genieße lieber die himmlische Ruhe dieses Ortes.«
»Es wundert mich nicht, dass die Benediktiner diesen Platz gewählt haben. Hier sind sie fern von allem menschlichen Getöse.«
»Komm zur Kirche, als Gäste müssen wir zumindest an den Laudes und an der Vesper teilnehmen.«
»Da oben habe ich einen Kreuzweg gesehen. Sollen wir den nachher begehen?«
»Gern, mein Kind.« Wieso nannte er sie eigentlich Kind?
»Ich bin bald erwachsen«, begehrte sie auf. »Nächstes Jahr werde ich achtzehn.«
»Du wirst für mich immer mein Kind bleiben.«
»Und du mein Vater!«, sagte sie und nahm ihn in die Arme.
Nach dem Gottesdienst und dem Frühstück gingen sie ein Stück hinauf zu der Stelle, wo der Kreuzweg begann. Es waren sieben Stationen, die den Leidensweg Christi darstellten, Bildstöcke, an denen die Mönche, in Ermangelung einer Reise nach Jerusalem, den Weg Christi nachvollziehen konnten: Die Bilder zeigten Jesus, der von Pontius Pilatus verurteilt wird, das Kreuz auf seine Schultern nimmt, wie er zum ersten, zum zweiten und zum dritten Mal fällt, wie er an das Kreuz genagelt wird. Schließlich wird er vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt. Seine letzten Worte waren in einen Stein gemeißelt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. (Lukas 23, 34)
Wieder fühlte Teresa sich eins mit der Welt und mit Gott. Petrarca, ihr Lieblingsdichter fiel ihr ein:
Auf den Gipfel ist das Ziel
Und das Ende unseres Lebens
Auf ihn ist unsere Wallfahrt gerichtet.
»Dort oben befindet sich die Höhle, in der die Moreneta gefunden wurde, die ›Kleine Braune‹«, sagte Froben.
»Die Schwarze Madonna?«
»Eben die. Wie ich schon erwähnt habe, fanden Hirten sie in der Grotte dort oben. Sie waren einem überirdisch scheinenden Licht nachgegangen und fanden die Madonna am Boden der Höhle. Sie soll vom Apostel Lukas geschnitzt worden sein.«
»Wo befindet sie sich jetzt?«
»Hier in der Kirche, hinter dem Altar. Wir werden noch Gelegenheit bekommen, sie anzuschauen.«
Während sie miteinander sprachen, waren sie den Weg zurück zum Kloster gegangen und standen nun wieder am Abgrund der Schlucht, die auf der Höhe der Abtei begann. Teresa trat einen Schritt vor und spähte
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