Die Pilgerin von Montserrat
die Wolken auf und schickten einen kegelförmigen Strahl zu ihm herunter.
Teresa fuhr sich mit der Hand in die Haare und wurde sich wieder einmal bewusst, dass sie lange brauchen würden, um ihre einstige Länge zurückzuerhalten. Ein wenig waren sie in den Wochen, die sie unterwegs waren, schon gewachsen. Aber das war ohne Bedeutung. Was war mit dem blonden Jungen? Hatte er sie verlassen? Dass er weggegangen war, konnte ein Zeichen für sie sein. Sollte sie nach Hause zurückkehren? Oder war es besser, Markus auf seinem Weg nach Santiago de Compostela zu folgen? Sie konnte sich nicht entscheiden, sich nicht mehr bewegen. Alle Ziele, die für sie möglich waren, schwirrten ihr im Kopf herum: Santiago, San Juan de la Peña, der Montségur, Montserrat, die Heiligen Städte Rom und Jerusalem. Die beiden Vorfahren Albrecht und Friedrich traten vor ihr inneres Auge und der Kandelaber, der alles überstrahlte. Sie fühlte noch die Wärme und die Kraft, die er in ihrer Hand entwickelt hatte. Nein, sie konnte den Gedanken, dieses Kleinod zu finden und heimzubringen, nicht verraten, konnte ihren Vater nicht verraten, für den es eine Lebensaufgabe war. Konnten sie die Chronik überhaupt weiterschreiben und zu Ende führen, wenn dieses Geheimnis nicht gelöst wurde? Alle Opfer, die bisher gebracht werden mussten, wären umsonst gewesen! Und der sterbende Eremit hatte auf das Kloster Montserrat hingewiesen.
Teresa streckte ihre tauben Glieder, erhob sich, zog ihre Pilgerkleidung an und begab sich nach unten in den Schankraum der Herberge. Ihr Vater saß bereits an einem blankpolierten Tisch und sah etwas übernächtigt aus. Wahrscheinlich hatte auch er nicht gut geschlafen. Über seinen Onyxaugen, die ohne Gläser viel größer und verletzlicher wirkten, lag ein Schleier. Teresa setzte sich zu ihm. Die Wirtin brachte eine große Schüssel mit Haferbrei und eine Kanne Würzwein.
»Ich sehe dir an, dass du fest entschlossen bist, unsere Reise fortzusetzen«, sagte Froben und tauchte seinen Löffel in den Brei.
»Wir müssen es schaffen, Vater. Ich würde meines Lebens nicht mehr froh werden, wenn wir mit leeren Händen heimkämen.«
»Alle hätten es so gewollt und so ausgeführt, wie wir es getan haben«, beschied Froben.
»Bis auf eine …«, meinte Teresa. »Barbara, wie ich dir gestern sagte. Sie äußerte so etwas wie: Was ihr in der Ferne sucht, ist vielleicht in der Heimat zu finden.«
»Damit spielte sie auf das Ziel des Pilgerns an: Alles Pilgern ist auf die Wahrheit gerichtet, die Wahrheit, die du in dir selber findest, und das bist du selbst, das ist Gott. Unser Familienerbstück«, er senkte die Stimme«, ist eine Versinnbildlichung dieses Vorgangs. Es verschafft demjenigen, der es im Besitz hat, diese Erleuchtung.«
»Ja, wir wagen es, den Weg zur Wahrheit zu gehen«, stimmte Teresa ihm zu. »Aber was du über die Katharer erzähltest, hat mir zu denken gegeben. Ist es nun Gott oder der Teufel, dem wir folgen?«
»Wir folgen der Wahrheit, und das ist Gott«, antwortete Froben mit Bestimmtheit.
Nach Beendigung des Frühbrotes verließen sie gesattelt und bepackt den schönen kleinen Ort. Es war inzwischen Mitte November. Die Sonne kam zwar immer wieder zwischen dahinjagenden Wolken hervor, doch machte ihnen der eisige Wind zu schaffen, der ihnen Tränen in die Augen trieb. Vor ihnen türmte sich das Massiv der Pyrenäen auf, dessen höchste Bergspitzen mit Schneebedeckt waren. In La Jonquera, der Grenzstation zum iberischen Reich, hielten sie eine weitere Rast. In endlosen Wellen breitete sich die karstige Landschaft vor ihnen aus, durchsetzt mit Krüppelkiefern und Olivenbäumen.
Durch die fruchtbare Ebene des Flüsschens Fluvia, im Westen flankiert von den erloschenen Vulkanen der Garrotxa, erreichten sie am Abend müde und erschöpft die Stadt Girona. Teresa staunte über Steinhäuser des jüdischen Viertels Call, in dem allein drei Synagogen standen. Die Gebäude wirkten gut erhalten, aber verlassen. Die spanischen Könige hätten die Juden Ende des 15. Jahrhunderts vertrieben, erklärte ihr Vater. Durch die engen Gassen pfiff der Wind. Eine Ratte huschte um eine Ecke. Teresa befiel eine Niedergeschlagenheit, die sie sich nicht erklären konnte. Obwohl Froben ihr zur Seite stand und sie sicher immer beschützen und für sie sorgen würde, fühlte sie sich sehr allein. Was führte sie eigentlich in diese fremde, kalte Stadt? Aber sie wollte Froben nicht zeigen, dass sie wieder zu zweifeln begonnen hatte,
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