Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
du mit Martin hast‹, raunte der Prior.
Was den Abt mit Martin verband, das mochten sich auch die Mönche fragen, während ihr himmlischer Gesang durch das Gewölbe der Klosterkirche hallte. In ihren schwarzen Kutten standen sie mit blassen, ausdruckslosen Gesichtern hinter dem Abt, der vor dem Altar, den Blick auf den Gekreuzigten gerichtet, die heilige Handlung zelebrierte. Nichts an ihren schönen Stimmen verriet, dass sie Gott lobten und priesen. Ihr Gesang war eintönig, monoton wie der Tod. Sie alle hatten dem Leben abgeschworen, sich dem Jenseits zugewandt. Das Jenseits aber kannte keinen rasenden Puls, keine aufpeitschenden Gefühle, keine Leidenschaft. ›Der Tod hat keinen Rhythmus‹, durchfuhr es den Abt. ›Er ist teilnahmslos gegenüber den Lebenden, er nimmt sie fort in seiner unergründlichen Gerechtigkeit, er ist so gleichgültig wie diese Musik, die ihr Gotteslob in keinem jubilierenden Ton ausdrückt.‹ Der Abt horchte auf seine eigene Stimme – dann auf den Respons der Brüder. Er klang weder traurig noch freudig, er klang, und das war das Erschreckende, weder gut noch böse. Dort aber, so dachte der Abt weiter, wo etwas das Gleichgewicht zu halten scheint, dort, wo Gut und Böse sich die Waage halten – dort obsiegt das Böse. Denn das Gute muss getan werden, es ist Tat, wie Jesus lehrt. Das Böse aber entsteht, indem man das Gute unterlässt. Das Böse ist die bleierne Gleichgültigkeit. Es war dem Abt unangenehm, dass er als Einziger am Altar stand, dass alle Mönche ihn anblickten, er aber selber die Brüder nicht sehen konnte, die da im nur spärlich erleuchteten Kirchenschiff hinter ihm lauerten. Es war ihm, als bohrten sich ihre Gedanken in seinen Rücken. Nicht nur die des Priors Philipp, der ihn seit jener körperlichen Niederlage im Badehaus hasste und sich jetzt rächte, weil er den über ihm Stehenden, den hoch Geachteten, den wie einen Heiligen Verehrten einer Schwäche bezichtigen konnte.
Wer hoch steht, der fällt tief. Und tief war er auch für die Brüder gefallen, die nicht, noch nicht, seine Feinde waren. Feinde, wirkliche Feinde, hatte er nur wenige im Kloster, vielleicht nur einen, diesen einen. Und doch, ihm war bewusst, dass auch die anderen, dass jeder Genugtuung empfand, ihm, dem Abt, endlich einen Fehler vorwerfen zu können. Und wenn auch nicht jeder seiner Brüder ihn des Vergehens verdächtigen mochte, er habe unkeusche Beziehungen zu Martin gehabt, so klebte an ihm der Vorwurf, er habe den jungen Mann offensichtlich, für jedermann sichtbar, bevorzugt. Das aber war für die Brüder das Verletzendste. Hatten sie bisher im Vertrauen und in der Sicherheit gelebt, dass der Abt niemanden, aber auch niemanden weder jemals benachteiligte noch ihm seine besondere Gunst schenkte, hatte sich also jeder gerecht behandelt gewusst, so war dieses Gleichgewicht zusammengebrochen. Bis zu jener Nacht, als er sich in Kreuzesform vor Martin geworfen hatte, war er zu allen Brüdern wie der große Gleichmacher – wie der Tod. Dann aber hatte der Abt einen anderen, dazu noch einen niederen Knecht, herausgehoben, ihm seine Aufmerksamkeit, seine Fürsorge, seine Zeit, ja, seine Liebe geschenkt. Das war es doch, was die Brüder ihm vorwarfen, was er sich selber eingestehen musste, seine Liebe zu Martin. Er liebte Martin, wie nur ein Vater seinen Sohn lieben kann. Was hielt ihn ab, dies offen zu bekennen?
War es die Schande, die auf das Kloster fiele? War es die Gefahr, die auf ihn selbst unausweichlich zukäme und vor der er Martin bewahren wollte? Körperlich fühlte der Abt die Bedrohung, die wie ein übler Geist im Kirchenschiff schwirrte.
Trotzdem wollte er die Mönche dulden, die misstrauisch geworden waren, sich zurückgesetzt fühlten, beleidigt waren, murrten, gegen ihn rebellierten – ihn fallen ließen. Was denn hatte seine Gerechtigkeit mit dem Leben zu tun? Sie war aus Ekel entstanden! Aus Ekel! Wie hatte es ihn angewidert, mit ansehen zu müssen, dass sein Bruder Karl dem Weib, der Magd, nachschlich, während er Felicitas, einen Engel, seine Gattin nannte. Wie hatte Martha über Felicitas triumphiert, weil sie Karl, ihren Herrn, nicht erhörte. Wie hatte ihn die bösartige Niedertracht, das Verbrechen, der Mord an Felicitas verletzt und gepeinigt, so sehr, dass er in jener stürmischen, wilden, eiskalten Januarnacht vor der Welt floh und das Kloster aufsuchte, um dem Leben für immer zu entgehen. Es wurde ihm mit einem Male eng in der Klosterkirche, es fiel ihm
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