Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
den Graben geworfen, um dem Belagerungsturm den Weg zu ebnen, ja sie blieben sogar während des Angriffs nicht untätig im Lager, sondern brachten den Männern Wasser und Munition, halfen beim Ziehen und Schieben der Belagerungsmaschinen – und wurden verwundet, getötet wie Männer.
Ihr Schwager hatte berichtet, als er kurz einmal vom Kampf zurück in seinen Palast kam, nicht ihr, sondern seiner Lieblingsfrau, die es nun allen anderen Frauen und sogar den Sklavinnen stolz verkündet hatte, also er hatte erzählt, dass eine Christin von einem Brandpfeil getroffen worden war. Ihr Kleid stand lichterloh in Flammen, und sie, statt sich zu schämen und zu verbrennen, habe das Kleid über den Kopf gezogen und sei nackt, vollkommen nackt, ins Lager gelaufen. Keiner der Männer habe sie beachtet, keiner habe ihr nur einen einzigen lüsternen Blick zugeworfen, alle hätten über die Berge von Leichen unbeirrt weiter gekämpft.
Hatixhe stützte ihren Arm auf und blickte durch das schmale, vergitterte Fenster. Vereinzelt huschte ein Krieger über den verödeten, vom rötlichen Licht des Feuers unheimlich beleuchteten Platz. Von Weitem hörte sie Stimmen, die sich schnell näherten, sie erkannte ihren Schwager, der mit einem Freund aus der Elitetruppe vor dem Haus stehen blieb.
»Grotesk«, hörte sie ihn sagen, »erst setzen wir ihren Rammbock in Flammen, damit er nicht auch noch die innere Stadtmauer durchbricht, und dann versuchen wir ihn zu löschen, damit dieser Koloss dem Belagerungsturm den Weg versperrt und sie ihn nicht an die Mauer schieben können.«
»Ja«, erwiderte der andere besorgt. »Und dann haben die Christen selbst ihren Rammbock in Brand gesetzt. Mit Erfolg.« Er zuckte die Achseln. »Wie werden sehen …«
»Pah«, erwiderte ihr Schwager und schlug seinem Freund aufmunternd auf die Schulter. »Jerusalem zu erobern, das schaffen die Christen nie.«
»Warten wir es ab«, sagte der andere bekümmert.
Das Kommen des Herrn war offenbar bemerkt worden, ein Sklave öffnete das schwere Tor und Hatixhe hörte, wie seine Lieblingsfrau ihm entgegenlief.
Hatixhe beugte sich wieder über ihre Stickerei. Sorge lag in den Worten des Freundes und auch des Schwagers Stimme klang nicht so fest und dröhnend wie noch vor ein paar Tagen, als er mit drei seiner Frauen auf der Stadtmauer der Prozession der Christen zusah. Wie fand er sie lächerlich, diese Ungläubigen und Unglücklichen mit ihren Kreuzen und Reliquien, ganz ohne Waffen, wie sie Jerusalem barfuß umrundeten und sich dann noch auf dem Zionsberg so mühelos abschießen ließen. Er hatte seinen Bogen mitgenommen und gefiel sich darin, auf einen weit entfernten Christen zu zielen, ihn zu treffen und sich von seinen Frauen feiern zu lassen. Hatixhe aber hatte sich keineswegs wohl gefühlt, wenn sie sah, wie der Mann oder die Frau oder gar das Kind weit da unten zusammenbrach. Auch das Schänden der Kreuze empfand sie als peinlich und unangenehm, wie konnten Männer sich vor ehrbaren Frauen so zur Schau stellen? Wie aber mochten die Christen dort unten die Entweihung ihrer Heiligtümer empfinden? Wut, Empörung, Hass musste wie Galle in ihnen aufsteigen. Diese Vorstellung beruhigte sie keineswegs.
Noch mehr verunsicherte es Hatixhe, dass Hannah, die Jüdin, bei der sie mit den Frauen des Schwagers und in Begleitung eines Eunuchen bisweilen Zuckerwerk einkaufen durfte, dass also Hannah, die neben Hatixhe auf der Befestigungsmauer stand, immerzu bedrohliche, finstere hebräische Worte murmelte und den Namen der Stadt ›Jericho‹ wie eine düstere Prophezeiung ausstieß.
»Was bedeutet das, was du da sagst?«, entschloss sie sich endlich, Hannah zu fragen.
Hannah wandte sich zu Hatixhe und blickte die junge Frau traurig an.
»Die Worte kommen aus der Geheimen Offenbarung und heißen, dass das Blut bis an die Zäume der Pferde reichte.«
Sie machte eine Pause und betrachtete wieder die Christen mit ihren Reliquien.
»Jericho aber wurde von Josua, bevor er die Stadt eroberte, genauso in einer Bittprozession umrundet wie die Christen da unten Jerusalem umrunden. Dann aber haben die Israeliten alle Einwohner mit dem Schwert umgebracht, Mann und Frau, Jung und Alt, sogar Schafe und Esel.«
Hatixhe schauerte. »Und du meinst, das werden die Christen mit uns auch tun?«
»Das weiß Gott allein«, hatte Hannah geantwortet und düster die Feinde beobachtet, die ihre heilige Handlung beendet zu haben schienen.
Hatixhe aber hatte sich gegen ihre Gewohnheit an
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