Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
fragte Martin schließlich.
Alice schüttelte den Kopf. »Und du?«
»Ich werde nach Antiochia gehen und den Rest meines Lebens an Theresas Grab weinen.«
Alice sah ihn verunsichert an.
»Natürlich nicht. Ich werde im Dienst des Grafen Raimond bleiben, meinen Sold sparen und ins diutsche landt zurückkehren, wahrscheinlich nach Passau. Ich weiß es noch nicht.«
Olivier stand still daneben. Alice schämte sich mit einem Mal vor ihm, für ihn als Blinden gab es keine Zukunft.
»Lasst uns einander umarmen«, wünschte sie.
Laut ertönten die Trompeten, jeder gliederte sich wieder in den Zug ein und gemessenen Schrittes ging es den Ölberg hinab Richtung Zionsberg.
Alice wurde unruhiger.
An der Häme der Frauen, Männer und Kinder auf der Befestigungsmauer von Jerusalem hatte sich nichts geändert. Immer noch und immer wieder wurden Kreuze entweiht.
Mit Angst sah Alice dem Augenblick entgegen, wo sie der Mauer so nahe kommen müssten, dass sie beschossen werden könnten. Die Soldaten da oben sahen nicht danach aus, als wollten sie einen so günstigen Augenblick verstreichen lassen.
Wie Alice es befürchtet hatte, sobald sie die Kirche der Heiligen Maria erreicht hatten und die Priester und Heerführer darin einen Bittgottesdienst zelebrierten, sausten die ersten Pfeile auf die sich duckende Menge der Kinder, Frauen und Männer. Niemand rührte sich, um zu flüchten. Die Sorge, Gott ungnädig zu stimmen und Jerusalem deshalb nicht erobern zu können, war größer als die Furcht vor den Geschossen. Angstvoll erwarteten die Pilger in ihren dünnen Büßergewändern die nächste Salve Pfeile.
Um Gottes willen, wurde es Alice klar. Selbst wenn es uns gelingen sollte, Jerusalem zu erobern, es einzunehmen, so ist noch nichts gewonnen. Dann bringen die Feinde da oben auf der Mauer uns um, überfallen uns, murksen uns hinterrücks ab auf engen Gassen, in dunklen Innenhöfen, während wir schlafen …
Wenn aber zudem noch in ein paar Tagen das große ägyptische Heer Jerusalem erreicht, von dem die gefangenen Kundschafter berichtet haben, dann sitzen wir in der Falle, dann ermorden sie uns gleichzeitig von innen und von außen.
Jerusalem in der Nacht vom 14. zum 15. Juli 1099
Endlich war es still geworden.
Endlich ging dieser angstvoll verbrachte Tag zu Ende und eine bange Nacht hing über Jerusalem.
Hatixhe sah von ihrer Handarbeit auf und horchte. Nichts war mehr zu hören, keine Einschläge, kein Schreien, kein Wimmern der Verwundeten, sogar die Christen zogen sich in ihr Lager zurück.
Doch Hatixhe empfand diese Stille bedrückender, beängstigender als den Lärm im Morgengrauen, die Trompeten und Hörner und das entsetzliche Kriegsgeschrei, ihr furchtbares ›Deus vult‹, das sie aus ihrem Schlaf aufschrecken ließ. Der Angriff hatte begonnen. Laut fluchend und schimpfend hatte sich ihr Schwager gerüstet, unter dessen Schutz sie stand, seitdem ihr Mann bei der Belagerung von Jerusalem vor einem Jahr von einem türkischen Geschoss tödlich getroffen worden war.
Lauthals beschwerte Hatixhes Schwager sich darüber, dass der Kalif in Ägypten auf die Warnungen seines Kommandanten von Jerusalem nicht rechtzeitig gehört hatte. Das ägyptische Entsatzheer musste noch immer irgendwo herumtrödeln, statt die Christen einzuschließen und zu vernichten. Wütend hatte der hohe Offizier seinen Palast verlassen und war mit seinen Soldaten und allen anderen Männer auf die Mauern gehetzt.
Unablässig, den ganzen langen Tag hindurch, hatte Hatixhe das Dröhnen der Einschläge vernommen und Panik hatte sie und alle Frauen des Hauses ergriffen, als unter den Stößen des feindlichen Rammbocks ein Stück der äußeren Befestigungsmauer zusammenkrachte, begleitet von dem begeisterten Siegesgebrüll der Christen. Von dem ansonsten nichts zu hören gewesen war, nur ihre Schreie, wenn sie von Pfeilen durchbohrt oder von Feuergeschossen getroffen worden waren, die in brennendes Pech, Wachs und Schwefel getaucht, mit Werg und Lumpen umhüllt und mit Nägeln gespickt waren. Es drang aber nicht nur das Schmerzgebrüll von Männern zu ihr, sondern auch das gellende Schreien von Frauen.
Hatixhe starrte ins Dunkel. Es war verwirrend, nicht nur die Männer, sondern auch die Christinnen führten den Angriff. Nicht nur, dass sie, wie von den Spitzeln berichtet, Felle zusammengenäht und Matten geflochten hatten, um die Belagerungsmaschinen vor den feindlichen Einschüssen zu schützen, nein, sie hatten auch unter Beschuss Steine in
Weitere Kostenlose Bücher