Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
umgebenden Kreuzfahrer verstanden fast nichts vom byzantinischen Ritus. Weder Sprache noch Gesänge, nicht einmal die Liturgie waren irgendwie vertraut. Nur erahnen konnte Alice, wann das Vaterunser gesprochen wurde, das sie heute nötiger zu beten hatte als sonst. Auf ihr lasteten die bevorstehende Schuld, die Ungeduld, die Liebe, die Ungewissheit und die Fügung in das Unabänderliche.
Es war bereits dunkel, als eine Frau mittleren Alters, eine Byzantinerin, die nur Griechisch sprach, Alice zu dem Palast brachte, in dem Graf Otto mit seinem Sohn und den Bediensteten wohnte. Alice bemerkte trotz oder gerade wegen ihrer Angespanntheit, dass die Häuser in Pera allesamt aus Stein waren, die Dächer mit römischen Ziegeln bedeckt und die Fenster schmal und hoch wie Schießscharten.
Durch ein Tor wurde Alice in einen Innenhof geführt und dann eine Treppe hinauf über einen bedachten Gang zu einer schmalen Tür, die die Frau öffnete, Alice eintreten ließ und sofort hinter sich wieder schloss.
Der Raum war von Honigkerzen in silbernen Leuchtern erhellt. In der Mitte stand ein Badezuber, schon mit Wasser gefüllt. Weiße Schaumkronen und Rosenblüten bedeckten seine Oberfläche. Vor einem Spiegel stand ein Schminktischchen, über einem Stuhl hingen ein blaues Untergewand und ein eng anliegendes rotes Obergewand aus glänzendem Atlas. Dazu passend, bestickte Pantoffeln, wie Alice sie noch nie so hübsch und zierlich gesehen hatte.
Alice lauschte, doch kein Geräusch drang zu ihr. Es war ihr, als wäre sie allein in dem weitläufigen Haus. Und doch war sie sicher, dass sich Bernhard ganz in der Nähe aufhielt, sie vielleicht durch einen heimlichen, verborgenen Spalt beobachtete. Unschlüssig blieb sie in dem Raum stehen.
Dann begann sie sich auszukleiden. Tatsächlich, es gelang, den Beutel mit dem Silbergeld unauffällig unter ihrem Untergewand zu verbergen. Mit dem Zeigefinger fühlte sie das Wasser, es war angenehm warm und roch wundervoll. Alice beschloss, an nichts zu denken, in den Zuber zu steigen und nur dieses herrliche Bad zu genießen. Vielleicht wollte der Ritter tatsächlich nichts anderes, als ihr die Wohltat eines Bades zukommen zu lassen.
Es klopfte. Alice schreckte auf und hatte doch nichts anderes erwartet, als dass Bernhard käme.
Auf ein erneutes Pochen an der Tür antwortete Alice mit »Ja, bitte!«.
Wenn es nun jemand anderes ist, dachte Alice. Sie bedeckte sich über und über mit Schaum, während Bernhard nun eintrat, grüßte, einen Stuhl heranzog und sich neben Alice beim Badezuber setzte. Er war vollständig angekleidet, wie Alice sofort bemerkte, hatte offenbar aber auch zuvor gebadet, denn sein Haar fiel locker und er war rasiert.
Alice nahm sich zusammen und stellte die Frage, die ihr schon lange auf den Lippen lag: »Warum tut Ihr mir so viel Gutes?«
Sie hoffte, er werde von Liebe sprechen.
Bernhard aber antwortete:
»Alice, ich will dir etwas von mir erzählen. Was ich dir sage, ist eigentlich kein persönliches Schicksal, denn es geschieht in fast gleicher Weise allen Söhnen von Adeligen, die zum Ritter ausgebildet werden. Und trotzdem erleidet es jeder für sich allein.
Als kleiner Junge musste ich von unserer Burg fort. Es war für mich eine weite Reise. Mein Vater sprach kaum mit mir, sondern ermahnte mich höchstens, tapfer zu sein und keinen Schmerz zu empfinden, unserer Familie keine Schande zu machen.
Mein Vater verabschiedete sich sofort nach dem Festessen, bei dem er mich sowieso nicht beachtet hatte. Es erfolgte nur die Aufforderung zum absoluten Gehorsam und die Ermahnung, unserer Familie Ehre einzulegen durch Leidensbereitschaft, Tollkühnheit und Furchtlosigkeit. Der Graf, von dem ich ausgebildet werden sollte, war ein harter Mann. Statt fürsorglicher Aufnahme erwarteten mich Strenge und der Zwang, niemals Schmerz zu zeigen. Wir waren fünf Jungen, aber überlebt haben nur drei von uns, einer brach sich schon im ersten Jahr das Genick, als er vom Pferd fiel, einem anderen wurde beim Üben mit dem Schwert der Arm abgeschlagen, er verblutete, und der dritte, eigentlich ein kräftiger, gewandter junger Mann, wurde bei einem Scharmützel, bei dem wir als Knappen mitkämpfen mussten, so unglücklich von einem Pfeil getroffen, dass er erblindete und ins Kloster gehen musste. Dass neben uns die Kameraden starben, mussten wir klaglos hinnehmen. Von den vielen Verletzungen, die ich selbst davontrug, will ich denn auch schweigen.
Jedenfalls sah ich meine Eltern und
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