Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
die rettende Frage in den Sinn kam:
»Und Euer Vater? Werden wir ihn nicht stören?«
»Mein Vater ist ausgegangen«, erwiderte er kühl und ließ sie eintreten.
Alice wagte nicht näher nachzufragen, sondern setzte sich auf einen mit einem Jagdmuster bestickten Schemel, den Bernhard ihr anwies.
Neugierig blickte sie sich in dem fremden Zelt um und ängstlich beobachtete sie Bernhard, der unverzüglich eine Nadel in einer Kerzenflamme erhitzte. Als diese sich etwas abgekühlt hatte, trat er an Alice heran. Alice atmete tief durch. Ohne weiter zu zögern, durchstieß Bernhard schnell und geschickt ihre Ohrläppchen.
Alice verspürte ihren Schmerz und seine Lust.
Nichtsdestotrotz gab er seinem Verlangen nicht nach, sondern tupfte mit einem weißen Tuch die wenigen Blutstropfen ab. Alice wunderte sich später, wieso in all diesem Dreck und Schlamm, in dem sie lebten, etwas so sauber sein konnte. Behutsam steckte Bernhard den Schmuck durch ihre Ohrlöcher und mochte den Blick nicht von ihr abwenden.
»Da, sieh selbst«, sagte er und reichte Alice einen Handspiegel.
Alice zauderte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich in einem Spiegel gesehen.
Bernhard nickte ihr zu.
»Hab keine Furcht. Du bist schön.«
Von sich selbst entzückt, betrachtete Alice ihr Spiegelbild, bewegte ihren Kopf, hörte das Klirren der Perlen, Glöckchen und Kreuze.
Wehmütig blickte Bernhard die junge Frau an und sagte: »Ich finde dich wunderschön.
Vergiss das in deinem Leben nie.«
Abrupt nahm er ihr den Spiegel wieder fort und forderte sie auf:
»Du musst jetzt zu deinem Vater gehen. Es wird bald Morgen.«
Bernhard blickte ihr noch nach, als Alice schon längst zwischen den Zelten verschwunden war. Dann hörte er ein Pferd schnaufen, darauf beschwichtigende Worte eines Mannes.
Graf Otto von Baerheim kehrte zurück. Bernhard blieb regungslos stehen und erwartete seinen Vater. Sie sprachen kein Wort miteinander.
Am frühen Morgen des 14. Januar 1097 begannen nach der Messe die Plünderungen.
*
Es war Frühling geworden. Alice stand in einem weiß gekalkten Raum in Pera, unweit von Konstantinopel, und blickte in einen mit Gold umrandeten Spiegel, der sie in Lebensgröße wiedergab, ein Geschenk des Ritters Bernhard von Baerheim. Sie trug ein blaues Kleid aus fließender Seide, das die Brust durch Goldstickereien betonte und am Halsausschnitt mit roten Blumenornamenten verziert war. Das Haar hatte sie hochgesteckt, es wurde gehalten von Kämmen aus Elfenbein, das sollte von Tieren stammen, die in Indien lebten, mindestens viermal so groß wie ein Pferd waren und Elefanten hießen. Alice drehte sich zur Seite, sodass sie ihr Ohrgehänge sehen konnte, es klapperte leise bei jeder Bewegung und war wirklich wunderschön. Das Einzige, was Alice störte, war, dass ihr immer ein wenig schlecht war. Die leichte Übelkeit rührte von dem Mittel gegen das Kinderkriegen her, das sie in kleinsten Mengen einnahm.
Schon am Tag nach der mit dem Ritter am Goldenen Horn verbrachten Nacht hatten sich die Frauen ihrer Umgebung Alice gegenüber verändert. Alice spürte, als sie morgens, den Krug in der Hand, vom Wagen herunterstieg und den Weg zum Brunnen einschlug, wie die Mädchen und Frauen auf ihr Ohrgehänge starrten, wie sie tuschelten, wie sie über den vermeintlichen Ehrverlust hinter vorgehaltener Hand tratschten und gleichzeitig Alice eine Ehrerbietung zeigten wie noch niemals zuvor. Mit dem Liebchen des Ritters von Baerheim wollte sich keine der Frauen anlegen, auch sonst niemand, ging doch seinen möglichen Taten der Ruf voraus, er habe erst im Frühjahr im Zweikampf einen Ritter besiegt und getötet. Doch während die meisten Frauen Alice nur neugierig, prüfend oder abschätzig von Weitem betrachteten, war die Mutter ihrer Freundin Hildegard auf Alice zugekommen, hatte sie zur Seite genommen und aus dem Lager hinausgeführt.
In eben jenem Pinienwäldchen, das Alice nachts zuvor mit Bernhard durchquert hatte, begann die Frau:
»Alice, bischt ein arm’ Mädche’. Hast kei’ Mutter, kei’ Amme und kein’ Magd und bischt nu’ fast ganz allein auf der Welt. Nu, bischt ja schon ziemlich alt. Als i’ verheirat’ ward, war i’ gerade 13. Und ganz unerfahren bischt nicht, hascht vieles im Lager gesehe’.«
Sie schwieg und auch Alice schwieg. Sie dachte an die Frauen, die mit ihnen zogen und die ihre Dienste anboten. Aber von diesen mal abgesehen, da ging ein Huschen nachts von Zelt zu Zelt, so viele Dienstmägde,
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