Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
sie tot.
Während er sich in unbestimmter Weise schuldig fühlte, wie die meisten wohl in diesem Raum sich ihrer Unzulänglichkeit bewusst waren, ohne ganz bestimmte schwere Verfehlungen begangen zu haben, war ihm, als ruhte auf ihm ein Blick, der ihn verunsicherte. Der Abt beobachtete die Gruppe, er versuchte es gar nicht zu verheimlichen.
Martin drehte sich nach ihm um und begegnete diesem Blick, den er nicht deuten konnte, streng, mitfühlend und traurig wirkte sein Gesicht. An der allgemeinen Begeisterung schien der Abt keinen Anteil zu nehmen. Schnell wandte Martin sich zurück und ließ sich wieder von dem Sog erfassen, den die Predigt bei allen anderen auslöste.
Atemlos lauschte er, welchen Lohn er empfangen würde, wenn er sich der bewaffneten Pilgerfahrt anschlösse.
»Fürchtet euch nicht vor Mühsal und Tod. Denn denjenigen, die ihr Leben verlieren auf der Fahrt nach Jerusalem, zu Lande oder zu Wasser oder in der Schlacht gegen die Heiden, ihnen allen werden in jener Stunde ihre Sünden vergeben. Das gewährt der Papst nach der Macht Gottes, die ihm verliehen wurde.
Folgt dem Aufruf des Papstes! Nehmt das Kreuz! Befreit Jerusalem!
Gott will es!«
Die Frömmigkeit, sonst ein verborgenes Gefühl, fand ihren Weg nach außen, die Menschen weinten, jubelten, schrien.
Der Bischof ließ sich Zeit, bis er sein eigenes Brustkreuz ergriff und in diese Stimmung hineinrief:
»Wer das Kreuz nehmen will, komme zum Altar und knie nieder!«
Ein jähes Zögern lähmte die Gläubigen, insbesondere die Älteren. Doch bei den Jungen, bei Martins Gruppe, war das Zaudern nur sehr kurz. Martin war der Erste, der sich aus der Menge löste und nach vorne eilte. Er war sehr aufgeregt. Trotzdem bemerkte er, dass der Abt die Kirche verließ.
Die Männer und Frauen warfen sich nieder und sprachen den Eid, nicht eher nach Passau zurückzukehren, als bis Jesus sein Eigentum zurückgegeben sei.
Der Bischof segnete sie und ermahnte sie, dass sie jetzt als Pilger in den geistlichen Stand versetzt seien und sie sich danach zu verhalten hätten.
»Ihr seid das Neue Volk Gottes, das Heer Gottes, das Exercitus Dei.«
In der Kirche brach ein ungeahnter Jubel aus. Menschen umarmten einander, weinten, lachten, redeten, bekreuzigten sich.
Alice stand allein. Zwar sprachen Freundinnen sie irgendwann an, aber sie nahm es nicht wahr. Sie schaute einmal zu Martin hinüber, der inmitten dieser Gruppe von jungen Männern stand, die sich fast alle einmütig für den Kreuzzug entschieden hatten. Nur wer gerade geheiratet hatte, musste erst die Einwilligung seiner jungen Frau einholen, oder wer einen einträglichen Beruf hatte, der wollte es sich noch einmal überlegen.
Martin kam sich jetzt schon vor wie ein Held.
Alice aber war allein wie noch nie, sie fühlte sich gänzlich überflüssig in diesem Trubel und Jubel, in dieser Freude und Aufbruchsstimmung. In sich gekehrt, ging sie aus der Kirche, die auch Martins Gruppe gerade verlassen wollte. Er winkte ihr zwar auf dem großen Kirchplatz zu, kam aber nicht zu ihr herüber.
War sie denn gar nichts wert, dass er nicht mit ihr sprach? Während sie durch das Immunitätstor St. Maximilian ging und nachdenklich vor den Werkstätten der Glasbläser, der Maler und Goldschmiede stehen blieb, erfasste sie plötzlich doch noch eine wilde Hoffnung. Der Vater war nicht bei diesem Gottesdienst dabei gewesen. Er hatte nicht öffentlich bekannt, dass er nach Jerusalem ziehen wollte. Von seiner Entscheidung wusste bisher nur der Abt. Ihren Vater könnte sie vielleicht noch umstimmen. Von diesem Entschluss beseelt, eilte sie nach Hause.
Jedoch ihren Vater bekam Alice den ganzen Tag nicht allein zu sehen. Er weigerte sich auch, seine Tochter nur einen Augenblick zu sprechen. Sie klopfte an die Tür seines Kontors, sie trat unerlaubterweise ein. Da stand ihr Vater, für sie plötzlich unerreichbar, stand zusammen mit dem Abt vor den Handelsbüchern. Die beiden Männer sahen auf und der Vater sagte knapp: »Jetzt nicht, Alice. Wir haben zu tun.«
Alice fühlte die Vergeblichkeit ihres Wunsches. All ihre Bitten, ihre Ängste würde der Vater nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Es war zum Wahnsinnigwerden. Da versuchte sie, ihn von seinem Entschluss abzuhalten, während er schon vollends darin aufging, sein Handelsgeschäft aufzulösen. Alice hörte im Vorbeigehen, wie er seinem Bruder die Buchhaltung erklärte, wie er ihn über noch zu liefernde Ware unterrichtete, über Außenstände, Handelspartner,
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