Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
Juden, von denen er zeitweilig Geld geliehen hatte. Dem Abt schien gar nicht nach Beten und frommem Leben zu sein, er arbeitete mit dem Bruder den ganzen Tag hindurch, bis auf die Stundengebete. Unterbrochen wurde diese Geschäftigkeit nur durch das Abendessen, an dem Alice nicht teilnehmen durfte.
Als der Tag sich neigte, hielt sie es in ihrem Vaterhaus nicht mehr aus. Doch wohin? Wer könnte ihr Trost spenden? Der Heilige Valentin oder der Heilige Maximilian, deren Reliquien sich im Bischofsdom befanden?
»Oh, Mutter!«, seufzte Alice. Sie sehnte sich nach den teilnehmenden Worten einer Frau.
Das Grab der Äbtissin Gisyla, kam es ihr in den Sinn. Schnellen Schrittes eilte Alice zum Kloster Niedernburg, zur Heiligkreuzkirche. Sie beugte sich über die von zwei Adlern flankierte Grabplatte und starrte auf die Inschrift: ›GISYLA ABATISSA‹.
Auch Gisyla hatte gelitten, sie war nicht immer Nonne, sie war Königin von Ungarn gewesen und hatte, betrogen und vertrieben, in Passau den Schleier genommen. Hatte sie hier ihren Seelenfrieden gefunden? Alice fand ihn jedenfalls nicht, so sehr sie auch um innere Ruhe rang. Ihr Vater erschien ihr gemein und grausam. Sie war sicher die Einzige, der er noch nicht mitgeteilt hatte, dass er sein Geschäft verpfändete, um wahrscheinlich für immer fortzugehen. Denn dass er mit Schätzen aus Jerusalem zurückkehren und es wieder auslösen könnte, das hielt Alice für einen blinden Traum. Alice verließ die Kirche, kehrte dann aber noch einmal um und blieb vor der verehrungswürdigsten Reliquie stehen, dem Stolz aller Passauer, einem Splitter des Kreuzes Jesu Christi. Dahin, nach Golgatha, wo das Kreuz gestanden hatte, wollte der Vater pilgern. Es gab ihr keine Hoffnung. Traurig, gedemütigt und enttäuscht ging Alice nach Hause, aß ein wenig Huhn, das vom Festessen übrig geblieben war, und kroch irgendwann ins Bett.
Doch auch diese Nacht konnte und wollte sie nicht einschlafen.
Was Alice überfiel, war Hass. Noch niemals hatte sie in ihrem Leben einen anderen Menschen gehasst. Während sie in Gedanken nun mit ihrem Vater milder umging, der wider Willen eigenhändig an einem einzigen Tag sein Lebenswerk zerstörte, hasste sie denjenigen, der all den Jammer ausgelöst hatte.
Wenn sie nur an sein scheinheiliges, unbewegliches Gesicht dachte, diese asketischen Züge, die dennoch weder hager noch verbittert wirkten, sie hätte ihn vor Wut … Ja, was eigentlich? Da kam dieser Bruder nach endlosen Jahren und nahm Alice ihr Vaterhaus, nahm ihr den Vater und dazu noch ihren Besitz, der ihr als einziger Tochter zustand. Sie war Alleinerbin, und wenn Alice auch niemals darüber nachgedacht und besonderen Wert darauf gelegt hatte, so hatte sie es doch von klein auf gewusst, dass ihr einmal ein großes Kaufmannsunternehmen gehören würde. Und nun? Nun wurde es zu Geld verschachert, um etwas so Kostspieliges, so Gefährliches wie einen Kreuzzug zu bezahlen. Das war doch bekannt, das hatte sich doch wie ein Lauffeuer in Regensburg, in Ulm, in Köln verbreitet, dass schon viele Frauen, Kinder und Männer des im Frühjahr aufgebrochenen Armenzuges nicht einmal Konstantinopel erreicht, sondern auf dem Marsch dahin elendiglich zugrunde gegangen waren.
War es denn sicher, dass ihr Vater überlebte? Den teuflischen Einflüsterungen des Abtes folgend, löste er alles auf wegen einer Sünde, von der er nicht einmal wusste, ob er sie wirklich begangen hatte.
Welche Sünde sollte das nur sein?
Welche Macht hatte dieser Abt über den Vater und wie rücksichtslos nutzte er sie aus!
Das musste ihm ja geradezu Freude bereiten, den Vater so zu demütigen. Ihr Vater aber, Alice musste es sich eingestehen, war zu schwach, seinem Bruder Widerpart zu leisten, und zu feige, mit seiner Tochter zu sprechen. Den ganzen Tag war er ihr aus dem Weg gegangen.
Erst spät am Abend des darauffolgenden Tages ließ er Alice durch eine Magd zu sich rufen. Auf dem von Fackeln erleuchteten Gang begegnete ihr der Abt. Er kam direkt auf sie zu und Alice bündelte ihren ganzen Hass, um ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Es gelang ihr wohl ziemlich gut. Dennoch ließ sich der andere nicht aus der Fassung bringen, sondern betrachtete seinerseits seine Nichte, und zwar aufmerksam prüfend, was Alice in noch größere Wut versetzte.
Sie betrat das Kontor. Der Vater stand am Stehpult, sehr steif, vor ihm Rechnungsbücher. Alice fiel zum ersten Mal auf, dass er bereits graue Haare hatte.
»Ich muss mit dir
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