Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
zu tun hatte.
Jede und jeder schien den steilen Steinweg zur Domkirche St. Stephan hinaufzudrängen, deren wuchtige Türme die Stadt überragten. Alice wurde geradezu in die Vorhalle der Kathedrale gestoßen und sie war viel zu unruhig, wie gewohnt einen Augenblick die Erhabenheit der Säulen, die Schönheit und Pracht der Farben des mit biblischen Szenen reich bemalten Deckengewölbes auf sich einwirken zu lassen. Sie liebte diese Kirche, die sie tagsüber bisweilen alleine aufsuchte, um vor dem Bild der Mutter Maria zu knien und an ihre eigene Mutter zu denken, die sie nicht gekannt hatte und über deren Tod ihr Vater niemals sprach. Heute aber war es schwierig, überhaupt noch irgendwo einen Platz zu ergattern. Dicht gedrängt standen die Menschen im Kirchenschiff und warteten auf den Beginn der Messe.
Ziemlich weit hinten, zusammen mit einer Gruppe ebenfalls junger Männer, entdeckte sie Martin. Er unterhielt sich lebhaft und bemerkte sie gar nicht, was ihr verständlich erschien, aber trotzdem verletzend war. Wenn auch Martin ihr Eintreten nicht auffiel, so hatte doch der Abt ihr Kommen beobachtet. Er stand nicht auf der vom Licht durchfluteten Herrschaftsempore, sondern fast unmittelbar hinter der Gruppe der jungen Männer, die allesamt zu den unteren Bevölkerungsschichten gehörten. Sie waren Knechte wie Martin, Schweinehirten, Schaf- und Kuhhirten, Handwerker, Söhne von Bauern, die ihrerseits meistens dem Passauer Bischof als Grundherrn angehörten. Alice selbst hatte ihren Platz im Kirchenschiff weit vorne zusammen mit den vornehmeren freien Bürgern der Stadt, von denen die junge Kaufmannstochter freundlich gegrüßt wurde und die auch Alice ehrsam grüßte. Das Stimmengewirr verstummte. Bischof Thiemo erschien. Ernst und gesammelt wirkte er, als warte er auf ein Zeichen.
Er begann:
»Viel geliebte Gläubige in Christo!
Der Kaiser von Byzanz hat den Papst um unsere Hilfe gebeten.
Denn unsere Schwestern und Brüder im Osten leiden.
Nicht nur, dass der Osten und Süden der Christenheit – Palästina, Syrien, Ägypten, Nordafrika und große Teile Spaniens – von den Ungläubigen angegriffen und unterworfen wurden…
Nein, nicht genug damit:
Ganz Romanien haben die Heiden in den letzten 20 Jahren erobert und stehen heute vor den Toren Konstantinopels.
Die ersten christlichen Gemeinden, die Städte, in denen unsere Apostel Petrus und Paulus gepredigt haben, sind nun verloren gegangen. Viele Christen wurden getötet, eingekerkert, gefangen genommen, Kirchen hat man zerstört und das Land verwüstet.
Und inmitten dieser feindlichen Welt: Jerusalem.
Zum tausendsten Todestag unseres Herrn Jesus Christus haben viele von uns westlichen Christen, viele von unseren Passauer Mitschwestern und Mitbrüdern eine Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten unternommen. Aber wir haben Jerusalem nicht aus den Händen der Ungläubigen befreit. Mit unseren Pilgerfahrten haben wir uns auf einen Weg zu einem Leben in Christus aufgemacht, aber wir haben dem Herrn nicht den Weg bereitet.
Jesus Christus aber ruft uns zu: ›Wann endlich helft ihr euren Brüdern und Schwestern im Osten? Wann endlich befreit ihr Jerusalem?‹
Doch wir hören ihn nicht.
Gott straft uns und wir verstehen ihn nicht: Er hat uns die Heuschreckenplage geschickt, Verwüstungen durch Überschwemmungen, die uns, die wir an drei Flüssen leben, besonders hart getroffen haben. Er mahnt uns mit zwei aufeinanderfolgenden Missernten und durch Hunger und so hohe Preise, dass sogar die Reichen unter dem großen Mangel an Getreide leiden.
Seufzer, Klagen und Tränen erdrücken euch und ihr sehnt euch nach dem himmlischen Jerusalem. Es ist gar nicht so fern, das Königreich der Himmel. Macht euch auf! Befreit euch von euren Sünden! Ich brauche sie euch nicht zu beschreiben. Jeder von euch«, er sah mit durchdringendem Blick in die Menge der Gläubigen, »jeder von euch«, und hier wurde es so still in der Kirche, als hätten sich die Sünden tief in jedermanns Knochen gebohrt, »weiß genau, wie er gesündigt hat.«
Martin sackte bei diesen Worten in sich zusammen. Zwar war er sich kaum einer Verfehlung bewusst, aber schon seit Kindestagen war er von der Bitterkeit erfasst, unehelich, der Bastard einer Magd zu sein. Und gleichzeitig schämte er sich, dass er seine Mutter nicht wirklich geehrt, sondern sie dafür verachtet hatte, dass sie ihre Unschuld an irgendeinen Mann verloren hatte, der sich weder zu ihr noch zu seinem Sohn bekannte. Und nun war
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