Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
Martin macht mir einen verständigen Eindruck.«
»Ja, Martin«, antwortete der Vater, er lachte abschätzig. »Ich habe Martha wiederholt aufgefordert, ihn zu dir ins Kloster zu geben. So ein Bastard ist ein schlechtes Vorbild für die anderen Knechte und Mägde. Wäre Martin Mönch geworden, er wäre eine Gottesgabe für die Sünde seiner Mutter gewesen. Weißt du, sie hat mich ausgelacht. Sie, die Magd. Sie hat geantwortet – wörtlich und voller Hohn –: › Da gebe ich meinen Sohn nicht hin. Wenn du wüsstest!‹ Ich habe sie immer wieder gefragt, wenn ich was wüsste. Aber sie hat mir nie darauf geantwortet.«
Karl machte eine Pause und strich sich gedankenvoll über seinen schon ergrauten Bart.
»Und nun willst du ihn als Diener«, sagte er endlich.
Über das Gesicht des Abtes huschte ein feines Lächeln, das Karl als Verachtung deutete.
»Du hast Martha nie gemocht.«
»Du aber umso mehr«, erwiderte der Abt.
Karl hatte nun endgültig genug von diesem Gespräch und sagte seinem Bruder zu, er werde Martin noch vor der Frühmesse Bescheid geben.
Das sei nicht nötig, es reiche, wenn er mit dem Angelusläuten seinen Dienst beginne, gab der Abt zurück.
»Übrigens«, bemerkte der Mann der Kirche im Hinausgehen, »wäre Martin als Sohn einer Magd und damit mittellos gar nicht im Kloster aufgenommen worden. Unser damaliger Abt, Gott hab ihn selig, er gab des Öfteren zum Besten: ›Wer steckt gerne sein Viehzeug zusammen in einen Stall: Rinder, Esel, Schafe, Böcke.‹ So sei auch darauf zu achten, dass nicht alles Volk in einer Herde zusammengeworfen werde.«
Darauf neigte der Abt vornehm seinen Kopf und ging.
Alice atmete erleichtert auf. Auch für sie war es notwendig, den Rückzug anzutreten.
Sie beobachtete den Vater, der sich jedoch nicht rührte, sondern auf seinem Stuhl sitzen blieb und vor sich hin starrte. Die Schritte des Abtes verhallten auf dem Steinfußboden. Jetzt war der passende Augenblick, um sich von dem Pfeiler zu lösen.
Leise schlich sie in ihre Kammer. Wie vorhin der Abt, zündete sie kein Licht an. Eiskalt war ihr. Kühl war es ohnehin in den Räumen, sogar im Sommer, wenn draußen die Hitze auf Gassen und Plätzen lagerte und die Luft über der Donau flimmerte. Erschöpft und angespannt legte sich Alice auf ihr Bett. Wie so häufig konnte sie vor Kälte nicht einschlafen, wie so häufig wagte sie sich im Winter in ihrem Bett nicht zu bewegen aus Angst vor dem Frieren, wenn sie gerade das bisschen Bettlaken angewärmt hatte, worauf sie lag. In ihrem Kopf schwirrte es von dem Gehörten, vor allem aber hämmerte sich ein Bild in ihre Gedanken: Mein Vater zieht nach Jerusalem. Jerusalem, wiederholte sie den Namen der Stadt und versuchte, sich die Stadtmauern, die prächtigen fremdartigen Häuser, die Dächer, auf denen man nachts schlafen konnte, die Grabeskirche und die Klagemauer, den Ölberg und die Sterne am schwarzen Himmel und vor allem die Hitze vorzustellen. Jerusalem, dachte sie schwärmerisch.
Und dahin würde ihr Vater pilgern und sie hier allein lassen, sie verlassen. Für immer verlassen. Es war durchaus möglich, dass er niemals wieder nach Passau zurückkäme, dass das ein Abschied für immer wäre.
Wie konnte er ihr das antun? War sie denn so wenig wert in seinen Augen, dass er sie im Stich lassen konnte, wie es ihm gerade gefiel? Mit keinem Wort hatte der Vater sie in dem Gespräch auch nur erwähnt. Warum nur hatte er sie, seine Tochter, nicht ins Feld geführt, um die Teilnahme abzulehnen? Das war doch offensichtlich, dass er eigentlich gar nicht wirklich nach Jerusalem wollte. Alice wälzte sich von einer Seite auf die andere. Irgendwie fühlte sie sich unter ihrer Bettdecke sehr unbehaglich, obwohl das Bettzeug mit Federn gefüllt war und nicht mit Stroh.
Allmählich fiel Alice tatsächlich in einen unruhigen Halbschlaf. Angst, Verletzung, Verzweiflung, Mutlosigkeit, dieses Bündel von Schrecklichkeiten erfasste sie, sodass sie zitternd schwitzte, bis sie jäh erwachte. Sie hörte Stimmen auf dem Hof, wieder unruhiges Pferdegetrappel, Wiehern. Graf Otto von Baerheim machte sich mit seinem Sohn und seinen Gefolgsleuten auf, um zum Heer Gottfrieds von Bouillon zu stoßen.
Alice kleidete sich in aller Eile an, lief die Treppe hinunter und hastete an den Männern vorbei, um noch rechtzeitig zur Frühmesse zu kommen. Überhaupt war ihr, als läge über der Stadt eine ungewohnte Unruhe, die nichts mit der gleichmäßigen Geschäftigkeit eines Arbeitstages
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