Die Pilgerin
anderen kratzte er die schwarze Kruste ab und fluchte dabei, so dass Vater Thomas tadelnd den Kopf schüttelte.
»Klage nicht die Heiligen an, sondern dich selbst. Nicht sie haben dich unaufmerksam werden lassen. Du allein warst mit deinen Gedanken nicht bei der Sache!«
Vater Thomas’ Predigt ging jedoch an Sebastian vorbei, denn er brummte: »Ist doch wahr!«
Anna blickte seufzend zu ihrem Pilgerführer auf. »Wir haben nicht viel Mehl gehabt, und jetzt wird das Brot nicht für alle reichen.«
»Dann soll Sebastian fasten. Schließlich hat er es versaubeutelt.« Dieter ergriff einen von Annas Stöcken, an dem dünne Streifen goldgelb gebackenen Brotes hingen, und begann hungrig zu essen. Das Brot war jedoch noch heiß, und als es seine Lippen berührte, stieß er einen Schmerzensschrei aus.
»Das hast du nun von deiner Gier!«, spottete Sebastian.
Dieter verbiss sich eine Antwort, die Vater Thomas gewiss nicht gefallen hätte, und aß um einiges vorsichtiger weiter.
»Üppig ist das Mahl nicht gerade zu nennen. Neben dem Brot besitzen wir nur noch ein Stück Ziegenkäse und die Wurst, die Peter vorgestern gekauft hat.«
Während Ambros die wenigen Lebensmittel aufzählte, die sie noch besaßen, wurde Peters spitzes Gesicht trüb. Er hatte geglaubt,die Wurst unbeobachtet erstanden zu haben, um sie als geheimen Reisevorrat mitzunehmen, doch der Goldschmied schien sogar im Hinterkopf Augen zu haben. Er wagte jedoch nicht, den Kauf der Wurst abzustreiten oder sie gar den anderen vorzuenthalten, sondern holte sie aus seinem Bündel und reichte sie Ambros, damit dieser sie aufteilen konnte. Es war nicht mehr als ein Bissen für jeden, der ein wenig Geschmack im Mund gab. Auch vom Käse gab es nur noch ein paar Krümel, die man in die Hand schütten und auflecken musste. Da das Wenige kaum den Hunger einer Person hätte stillen können, hofften alle auf das nächste Pilgerhospiz und die dicke Suppe, welche die Mönche dort austeilen würden.
Tilla war froh, als sich die allgemeine Aufmerksamkeit von ihr auf Sebastian und dessen Missgeschick verlagert hatte, fand sich aber im Verlauf des Abendessens im Zentrum der Blicke wieder. Ihre Reisegefährten richteten viele Fragen an sie, und bei den meisten wusste sie nicht, was sie darauf antworten sollte. Als Otto hätte sie einen munteren Spruch von sich gegeben und gelacht. Jetzt aber schien mit dem Wechsel der Kleider auch eine gewisse weibliche Scheu zurückgekehrt zu sein.
Zu viel wollte sie nicht von sich preisgeben und erzählte daher nur, dass sie ihrem toten Vater geschworen habe, nach Santiago zu ziehen und dort für ihn zu beten.
Der einzige Mann, den Tillas Veränderung nicht wirklich berührte, war Bruder Carolus, der Karmelitermönch. Dafür schossen ihm tausend andere Gedanken durch den Kopf. Er beobachtete Sebastian und nahm dessen verkniffene Miene und die flammenden Blicke wahr, mit denen dieser die junge Frau bedachte, und begriff mehr, als Sebastian selbst ahnte.
Da die anderen Wallfahrer dem jungen Mann nichts zu essen gaben, rückte Bruder Carolus an dessen Seite und bot ihm dieHälfte seines Anteils an. »Hier, nimm! Ich bin Fasten gewöhnt und du brauchst morgen alle Kraft, um das Kreuz zu tragen.«
Sebastians Magen knurrte sofort hörbar und er fühlte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Von dem Karmeliter, der ihn zu üblen Dingen hatte verführen wollen, wollte er jedoch nichts annehmen. »Ich kann das Kreuz auch hungrig tragen!«
Bruder Carolus ließ sich jedoch nicht abschütteln, sondern hielt Sebastian das Essen hin. Dem Duft nach frischem Brot und einer würzigen Wurst vermochte dieser nicht zu widerstehen, und ehe er sich versah, hatte er den ersten Bissen in den Mund gesteckt und kaute langsam und genussvoll darauf herum.
Der Mönch lächelte und blickte dann zum Himmel auf, der bereits die ersten Sterne zeigte. »Siehst du diesen hellen Streifen dort oben, Sebastian?«
»Ja! Warum?«, antwortete dieser mit vollem Mund.
»Es ist die Milchstraße. Wir folgen ihr, bis sie uns nach Santiago führt. Dort werden wir für unsere Sünden beten, und hoffentlich auch die Vergebung erhalten, nach der wir uns sehnen.«
Da Bruder Carolus verzagt klang, blickte Sebastian ihn überrascht an. Bis jetzt hatte er den anderen für einen Lumpen gehalten, der sich an junge Männer heranmachte. Nun aber wirkte das Gesicht des Mönches fast entrückt und das lateinische Gebet, das über seine Lippen kam, hörte sich sehr inbrünstig
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