Die Pilgerin
ein Windstoßdas Korn. Bevor auch nur einer etwas tun konnte, hatte er das Ufer erreicht und trieb sein Ross ins Wasser. Ihm war mehr Glück beschieden als seinem Kameraden, denn er rutschte aus dem Sattel, um sich vor den Wurfgeschossen in Sicherheit zu bringen, und klammerte sich an den Schweifriemen seines Pferdes, das ihn zum jenseitigen Ufer zog.
Erschrocken über den Gewaltausbruch, den sie eben erlebt hatte, wandte Tilla sich an Vater Thomas. »Geht es an dieser Stelle immer so zu?«
Ihr Pilgerführer schüttelte den Kopf. »Im Allgemeinen nicht. Doch diesmal sind einfach zu viele Leute zusammengekommen, die übergesetzt werden wollen, und dem Fergen lag in erster Linie daran, jene hinüberzubringen, die ihn bezahlen können. Die meisten Pilger geben ihm nur Gottes Lohn.«
»Hoffentlich kommt er zurück und holt uns über.« Tillas Blick glitt über den Strom und blieb auf der Fähre haften, die nun ein Stück weiter unten das andere Ufer ansteuerte. Dort stand ein Pferd bereit, auf dem ein halbwüchsiger Junge saß, um den Prahm wieder ein Stück stromaufwärts zu treideln. Nachdem die Reiter die Fähre verlassen hatten, schlang der Ferge ein Seil, das ihm der Bursche zuwarf, um einen Balken und rief etwas. Der Gaul setzte sich in Bewegung und schleppte die Fähre samt den noch aufgeladenen Karren in Richtung der Fährhütte, von der auch die Straße weiterging, welche die Fuhrwerke benutzen mussten.
Das Ganze dauerte eine Weile und danach lag die Fähre an einem Pfosten vertäut am Ufer, während der Fährmann und seine Knechte ausstiegen und in die Hütte gingen.
»Die kommen heute nicht wieder!«, mutmaßte Ambros.
»Was sollen wir nur machen?« Tilla blickte Vater Thomas fragend an.
Der Pilgerführer konnte nur mit den Schultern zucken. »Warten! Holt er uns heute nicht über, so tut er’s vielleicht morgen.« »Das wird dann aber ein arg hungriger Tag, denn wir haben kein Fitzelchen mehr zu essen.« Sebastian, der bereits länger als die anderen hatte fasten müssen, bleckte die Zähne zu einer wütenden Grimasse.
III.
Nach einer hungrig verbrachten Nacht wurde die Gruppe schließlich doch übergesetzt. Dem gingen jedoch harte Verhandlungen voran. Der Ferge näherte sich mit seinem Boot dem Ufer auf Rufweite und warf dann einen großen Stein als Anker über Bord.
»Was zahlt ihr fürs Übersetzen? Umsonst ist nur der Tod, aber da könnt ihr euch direkt in den Strom stürzen und braucht mich nicht dazu.«
Die Anführer der verschiedenen Pilgergruppen und einige Fußwanderer berieten kurz, dann nahm Vater Thomas seinen Hut ab und schritt von einem zum anderen, um Geld für die Überfahrt zu sammeln. Starrheim, Sebastian und die Zwillingsschwestern besaßen keinen blanken Heller mehr und wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Tilla entnahm der behelfsmäßigen Börse, in die sie einige kleinere Münzen gesteckt hatte, mehrere Sous und legte sie in Vater Thomas’ Hut.
»Die müssen aber auch für Herrn Rudolf, Anna und Renata reichen.«
»Und was ist mit mir?«, rief Sebastian entsetzt.
»Für dich zahle ich.« Ambros wechselte einen kurzen Blick mit Tilla. Darüber ärgerte Sebastian sich so, dass er die Hilfe desGoldschmieds am liebsten abgelehnt hätte. Aber er begriff, dass er nicht einfach seiner Laune nachgeben durfte, und sah mit verbissener Miene zu, wie der Hüne dem Pilgerführer das Geld reichte.
Kurz darauf rief Vater Thomas dem Fergen zu, was die Pilger bereit wären zu bezahlen. Die Summe schien dem Mann zu gering und er forderte mehr. Daraufhin winkte der Pilgerführer ab. »Weiter flussabwärts wird es gewiss eine andere Fähre geben. Der Herr wird uns dorthin leiten.«
Der Fährmann schimpfte schlimmer als ein Marktweib, das bestohlen worden war, und befahl seinen Knechten dann doch, den Steinanker einzuholen. »Also von mir aus soll es sein! Ich werde euch Hungerleider übersetzen. Auf dem Rückweg aber werdet ihr schwimmen müssen, das schwöre ich euch.«
Tilla war froh, dass Starrheim ihr die fremden Laute übersetzen konnte. Ohne ihn und natürlich auch Vater Thomas hätte sie sich hier in diesem Land so hilflos gefühlt wie ein Lamm, das seine Mutter verloren hat.
Als das Schiff näher kam, strömten alle ans Ufer. Tilla wurde beiseite gestoßen und geriet in Gefahr, zu stürzen. Da packte sie jemand am Arm und riss sie hoch. Es war Sebastian, der mit einem überheblichen Grinsen auf sie herabsah.
»Zur Fähre geht es da lang, und nicht nach unten.
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