Die Pilgerin
Nachmittag eines der Klöster oder Hospize erreichte, konnte auf ausreichend Essen und einen guten Platz zum Schlafen hoffen. Jene, die später kamen, mussten sich oft mit einem Napf dünner Suppe oder mit einem Rest Brot begnügen und ihr Nachtlager unter freiem Himmel aufschlagen.
Im Lauf der Tage, die einander glichen wie Hühnereier, stumpften die Pilger, die zunächst jede Veränderung freudig bemerkt und kommentiert hatten, immer mehr ab. Sie achteten kaum noch auf den Wechsel der Landschaften, durch die sie zogen, und gönnten auch den Bewohnern keinen Blick. Diese hatten sich ihrerseits an die Pilgerscharen gewöhnt und beachteten sie kaum noch. Nur wenn die Wallfahrer zufällig auf einen Markt trafen, erstanden jene, die noch ein wenig Geld besaßen, von einer der Marktfrauen oder einem Händler Käse, Wurst, eingelegte Oliven und Nüsse sowie gelegentlich auch etwas Brot.
Die meisten, die mit Vater Thomas zogen, hatten durch die Ereignisse der letzten Zeit ihr Geld verloren. Außer Tilla, Ambros und Hedwig, die mit den anderen teilten, was sie an Lebensmittelnkauften, besaß nur noch Peter einige Münzen. Er versorgte sich jedoch heimlich mit den begehrten Dingen und aß sie, wenn keiner der anderen zu ihm hinsah. Vater Thomas rügte ihn deshalb mehrfach, jedoch ohne Erfolg.
Als sie sich an einem späten Nachmittag einem Kloster näherten, das malerisch am Fuß aufragender Berge lag und dessen Mauern an einer Seite von den Fluten eines kleinen Flusses umspült wurden, der dem Lot zueilte, hofften alle, endlich einmal satt zu werden.
Sebastian rieb sich über den Bauch, der flacher war, sich aber fester anfühlte als jemals zuvor, und grinste. »Heute dürften wir die Ersten sein und noch Fleisch in der Suppe finden.«
Tilla hatte sich eben umgedreht und zeigte nach hinten. »Dann sollten wir uns aber beeilen. Die Wallfahrer dort hinten scheinen uns unbedingt überholen zu wollen!«
Jetzt sahen es auch die anderen. Die Schar, die ihnen folgte, zählte mehr Köpfe als ihre eigene und war zudem nicht mit einem schweren Kreuz belastet, sondern trug nur eines aus dünnen Stangen mit sich. Der Träger konnte daher ebenso rasch ausschreiten wie seine Gefährten, und so holte die fremde Gruppe rasch auf.
»Los, Leute, das lassen wir uns nicht gefallen!« Sebastian drängte, schneller zu werden. Da Peter, der an diesem Tag das Kreuz tragen musste, am Ende seiner Kräfte schien, nahm Ambros es ihm aus der Hand, legte es sich auf die Schulter und stiefelte mit langen Schritten vorwärts.
Tilla sah das zufriedene Grinsen des bisherigen Kreuzträgers und ärgerte sich über den Mann, der offensichtlich nur einen Grund gesucht hatte, seine schwere Last loszuwerden. Allerdings hätten sie das Wettrennen, das sich nun mit der großen Schar hinter ihnen entspann, mit ihm nie gewinnen können.Ambros hingegen stürmte vorwärts und wurde noch schneller, als er bemerkte, dass die Fremden immer noch aufholten.
Zuletzt gewann Tillas Gruppe um Haaresbreite, doch kaum hatte sie den Klosterhof betreten und den Segen der Mönche empfangen, die hier auf Wallfahrer warteten, strömten auch schon die anderen Pilger herein. Es handelte sich um Franzosen, die wortreich ihren Unmut darüber ausdrückten, hinter den Deutschen zurückgeblieben zu sein. Ihr Anführer redete auf die Mönche ein und forderte sie auf, seinen Leuten als Ersten die Pilgersuppe zu geben, da sie an diesem Tag weit gewandert seien.
»Das sind wir auch!«, wies Graf Rudolf ihn auf Französisch zurecht. »Wir sind als Erste hierher gekommen und daher steht uns auch der erste Napf Suppe zu.«
Die einheimischen Mönche hoben beschwichtigend die Hände, sahen dabei aber nicht sehr glücklich aus. »Bitte, liebe Freunde, streitet euch nicht auch noch um das Wenige, das wir euch anbieten können. Es mag euch nicht alle satt machen, doch es kommt von ganzem Herzen. Jeder Bruder hier im Kloster verzichtet bereits auf die Hälfte dessen, was ihm zusteht, damit die Pilger versorgt werden können.«
Während Rudolf von Starrheim die Worte übersetzte, kratzte der französische Pilgerführer sich über sein stoppeliges Kinn. »Hattet ihr eine Missernte oder haben euch die verdammten Anglais überfallen?«
»Die Engländer, die Gott verderben mag, haben den Waffenstillstand nicht gebrochen, den sie mit unserem guten König Karl geschlossen haben. Wir – oder besser gesagt – mehrere unserer Meierdörfer wurden jedoch von marodierenden Söldnern überfallen. Die
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