Die Pilgerin
zu sättigen.
Da es inzwischen völlig dunkel geworden war, suchten sie sich einen Platz zum Schlafen. Tilla und die drei anderen Frauen wählten eine Stelle abseits des Klosters, da dessen schattenhafte Ruinen sie erschreckten. Doch auch hier lag noch der Brandgeruch in der Luft und reizte die Lungen. Während die beiden Schwestern beteten und Hedwig schon bald zu schnarchen begann, blickte Tilla zum Himmel und suchte die Milchstraße, die den Weg nach Santiago weisen sollte. Wie viel der Wegstrecke mochten sie bereits zurückgelegt haben? Ihr schien es, als würde sie bereits seit Jahren über staubige und schlammige Straßen, durch Hitze und Regen, Wind und Sturm wandern und sei dazu verurteilt, dies bis zum Ende ihres Lebens zu tun. Ihre Hand suchte die Pilgertasche mit der Zinndose, um sich zu vergewissern, dass es richtig gewesen war, zu dieser Wallfahrt aufzubrechen. Als sie das Metall berührte, war es ihr, als streiche ihr Vater ihr über die Stirn mit den Worten, dass alles gut ausgehen werde. Lächelnd schloss sie die Augen und träumte von den Tagen, in denen sie noch klein gewesen war. Damals hatte ihr Vater sie hie und da einmal auf den Arm genommen und an sich gedrückt.
Für die meisten der Gruppe wurde es ein ungemütliches Nachtlager.Der Hunger erschien ihnen nun weniger schlimm als die Ungewissheit. Vor allem Vater Thomas machte sich Sorgen wegen der räuberischen Söldner. Wo mochten sie von hier aus hingezogen sein? Außer der Straße, die sie gekommen waren, führten zwei andere vom Kloster weg. Auf welcher dieser beiden lauerte Gefahr und welche war sicher? Der Priester betete inbrünstig und flehte Gott um Rat an. So vermessen, um einen Engel zu bitten, der sie auf sicheren Wegen führen würde, war er jedoch nicht. Er hoffte nur, dass der Herr im Himmel sich seiner kleinen Schar annehmen und sie beschirmen würde. Mit diesem Gedanken schlief er schließlich auch ein, und als er am anderen Morgen erwachte, brannte nicht weit von ihm ein Feuer, über dem ein Kaninchen brutzelte.
Sebastian grinste über das ganze Gesicht, als er den Priester begrüßte. »Das Karnickel da habe ich mit einem Stein erlegt!«
»Ein guter Wurf!«, lobte Vater Thomas, während er ans Feuer trat und sich ein wenig die Hände wärmte. Obwohl die Tage in dieser Gegend schier unerträglich heiß werden konnten, waren die Nächte so kalt, dass einem die Glieder erstarrten.
Dieter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Viel ist das nicht für ein Dutzend Leute. Da hätte es schon ein Spanferkel sein müssen.«
Sebastian fühlte sich angegriffen und sprang auf. »Wenn es dir zu wenig ist, brauchst du ja nicht mitzuessen. Ich frage mich eh, warum ich es mit allen teilen sollte.«
»Weil wir Reisegefährten sind; Pilgerbrüder und -schwestern!«, wies Vater Thomas ihn zurecht. »Das größte Stück gib dem, der heute das Kreuz trägt, und auch den Frauen etwas mehr, damit sie durchhalten.«
»Und was bleibt dann für uns?«, maulte Dieter.
Sebastian lachte spöttisch auf. »Ein Bissen mit ein wenig Geschmackim Mund sowie die Hoffnung, heute im Lauf des Tages auf ein gastfreies Kloster zu treffen.«
Mehr als sonst schien Dieter alles schwarz zu sehen. »Und was ist, wenn auch dieses Kloster niedergebrannt wurde?«
Auf diese Frage wollte keiner antworten. Als das Kaninchen halbwegs gar aussah, schnitt Sebastian für Tilla und die anderen Frauen je ein winziges Stück Fleisch ab und reichte es ihnen mit der Messerspitze.
Hedwig griff als Erste zu und ließ das Fleisch beinahe fallen.
»Das ist ja noch heiß!«
»Das hat ein Braten, der frisch vom Feuer kommt, nun einmal so an sich.« Dieter schien froh zu sein, sich erneut an jemand reiben zu können, wurde aber weder von Hedwig noch von den anderen beachtet.
Unterdessen erhielt auch Tilla ihren Teil, jonglierte es in den Händen und steckte es halbwegs abgekühlt in den Mund. Das Stückchen war klein und schmeckte nach nichts anderem als ein wenig verbrannt. Dabei schoss Tilla die Frage durch den Kopf, ob auch Leute in den Flammen des Klosters umgekommen waren, und bei dem Gedanken hätte sie das Fleisch beinahe wieder ausgespuckt. Nur mit Mühe behielt sie es im Mund und kaute langsam und voller Widerwillen darauf herum.
»Na, wie hat es geschmeckt?« Sebastian hoffte bei Tilla auf ein Lob für sein Jagdgeschick und seine Kochkünste.
Die junge Frau starrte jedoch nur blicklos in die Ferne und stand schließlich auf. »Ich muss in die Büsche.«
»Ich komme
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