Die Pilgerin
Kerle die Beine des Mädchens auseinanderzwang und sich dazwischenschieben wollte, war sie mit wenigen Schritten bei ihm und schlug ihm mit aller Kraft den Pilgerstab über den Kopf. Während der Mann ohne einen Laut zu Boden sank, sprang sein Kamerad auf und bleckte die Zähne.
»Das hast du nicht umsonst getan, du Miststück!«
Anders als der andere Schurke war dieser Krieger gewappnet und trug einen Helm. Tilla schwang den Stock, doch der splitterte, als er auf Eisen traf. Der Söldner schüttelte sich kurz, zog dann grinsend sein Schwert und kam auf sie zu.
»Du bist wohl eine ganz Hartnäckige, was? Aber wenn meine Kameraden und ich mit dir fertig sind, wirst du wissen, was es dir gebracht hat.«
Tilla verstand seine Worte nicht, doch der Ausdruck seines Gesichtssagte ihr genug. Verzweifelt wich sie vor ihm zurück und tastete nach ihrem Messer. Es war eine lächerliche Waffe angesichts des dunkelfleckigen Schwertes in der Hand des Mannes, doch freiwillig wollte sie nicht aufgeben.
In dem Augenblick riss der Mann die Augen auf, stöhnte und sank mit erstaunter Miene nieder. In seinem Rücken steckte das Schwert des Bewusstlosen, das Hedwig aufgehoben und ihm in den Leib gestoßen hatte. Nun sah die Frau aus, als müsse sie sich übergeben, und schlug das Kreuz. »Heilige Maria, Muttergottes, verzeih mir, doch ich konnte nicht anders!«
»Danke!« Tilla nickte Hedwig kurz zu, trat dann auf das Mädchen zu und forderte es mit Gesten auf, sich zu erheben. Der bewusstlose Mann lag jedoch noch auf ihren Beinen und so mussten Tilla und Hedwig den Kerl wegzerren, damit die Überfallene freikam. Mit einem Seitenblick auf das blutige Schwert im Rücken des anderen Kriegers überlegte Tilla, ob sie diesen Mann ebenfalls töten sollte, doch als sie die Hand nach der Waffe ausstrecken wollte, zitterten ihre Finger so sehr, dass sie das Heft nicht greifen konnte.
»Kommt, wir verschwinden!«, rief sie Hedwig und den anderen zu.
Es war zu spät. Krieger in fleckigen Rüstungen und buntscheckigen Fetzen brachen durch die Büsche und trieben Rudolf, Sebastian, Bruder Carolus sowie einen Ritter vor sich her, der sein Pferd verloren hatte und sich verzweifelt mit seinem Schwert zur Wehr setzte.
Den Mann erkannte Tilla sofort, denn es war der Ritter, mit dem die Pilger an der Rhône-Fähre aneinandergeraten waren. Also musste das Mädchen jenes arrogante Ding sein, das den Streit erst ausgelöst hatte. Einen Augenblick lang bedauerte sie, sich ausgerechnet für dieses hochmütige Geschöpf inGefahr begeben zu haben. Dann aber dachte sie nur noch an Flucht.
Sie wählte den Weg, den sie gekommen waren, obwohl er schwierig zu gehen war, doch er führte an einzelnen Büschen und Spalten vorbei, die ein Versteck bieten mochten. Die Frauen, Vater Thomas und Peter folgten ihr, während Dieter zu überlegen schien, ob er nicht doch den Freunden zu Hilfe kommen sollte, die gegen den Haufen zerlumpter Marodeure auf verlorenem Posten standen. Dann entschied er sich jedoch, hinter den Frauen herzurennen.
Es war ein Wettlauf mit dem Tod. Die Kraft der Jugend beflügelten Tilla und die gerettete Kleine, Hedwig half ihre Verbissenheit und Anna die Tatsache, dass ihr vor Angst förmlich Flügel wuchsen. Ihre Schwester blieb jedoch immer weiter zurück und stürzte schließlich über einen Stein.
Tilla sah sie fallen, sah aber keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Anna, die sich umdrehen wollte, wurde von Peter gepackt und mitgeschleift. Weiter vorne stieß Hedwig einen erleichterten Ruf aus.
»Dort ist ein Spalt in der Felswand!«
Tilla sah hin und schüttelte den Kopf. »So auffällig wie der ist, werden die Kerle dort als Erstes suchen.« Sie rannte weiter und erreichte einen Abgrund, der zwischen zwei und drei Mannslängen tief war. Unten floss ein spärlicher Bach, der in Zeiten der Schneeschmelze eine Höhlung in die Uferböschung gegraben hatte.
»Schnell, kommt hierher. Wir müssen da runter!« Tilla winkte den anderen und rutschte als Erste hinab. Sie klatschte in das Wasser, kam aber besser auf als befürchtet. Die fremde Reiterin folgte ihr blindlings. Hedwig aber hing noch halb auf der Kante oben und wagte es nicht zu springen. Tilla fasste nach ihrenBeinen und zog sie herab. Dieter folgte als Nächster, dann warf Peter Anna wie einen Sack hinunter, so dass Tilla und Hedwig sie gerade noch auffangen konnten, und sprang hinterher. Als Letzter wagte Vater Thomas den Sprung. Sein Gesicht war grünlich angelaufen und in seinen
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