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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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derGottesmutter so nahe ist wie an nur wenigen anderen Stellen der Welt!« Er beugte sein Knie und schlug das Kreuz, während Tilla und die anderen nach vorne auf eine von Hügeln gesäumte Ebene schauten, in der sich ihr heutiges Ziel erhob. Im ersten Augenblick waren sie ein wenig enttäuscht, denn die Kirche war keinesfalls mit der mächtigen Kathedrale von Pamplona oder dem Münster zu Ulm zu vergleichen. Es handelte sich um einen eher kleinen, auf die Entfernung rund wirkenden Bau, der von einem niedrigen Turm flankiert wurde und den ein von Bogen überspannter Kreuzgang umgab. So hätte eine Klosterkirche aussehen können, nur gab es hier kein Kloster. Einen Steinwurf entfernt lag eine einfache Pilgerherberge, die von ein paar Mönchen betreut wurde, und es gab einen Platz, an dem Tilla und die anderen etliche hölzerne Kreuze entdeckten.
    »Dies ist die Grabstätte der Pilger, die an diesem Ort gestorben sind«, erklärte Vater Thomas. »Auf meiner ersten Pilgerfahrt war ich nur ein Bruder, der zusammen mit anderen Brüdern wanderte, und musste dort drüben meinen besten Freund begraben. Wir hatten gemeinsam studiert und uns zusammen auf den Weg zum Grab des Apostels gemacht. Doch mein Freund wurde krank und starb an diesem Ort. Damals wollte ich an Gott verzweifeln, doch da erschien mein Freund mir im Schlaf und sagte mir, dass ihm nichts Schöneres hätte geschehen können, als hier in den Armen der heiligen Mutter zu ruhen.«
    Vater Thomas schnaufte tief durch und zeigte damit seinen Begleitern, wie stark die Ereignisse von damals ihn auch heute noch berührten. Tilla fühlte sich durch seine Worte ein wenig an Olivias Tal und deren Große Mutter erinnert. Konnte es wirklich sein, dass Maria, die Gebärerin Jesu, die Stelle eineranderen, weitaus älteren Frauengestalt einnahm und die Anbetung erhielt, die im Grunde einer heidnischen Göttin galt? Sie hätte gerne mit Vater Thomas darüber gesprochen, wagte jedoch nicht, Olivias Geheimnis preiszugeben. So folgte sie ihrem Pilgerführer zu den Gräbern, sprach mit den anderen ein Gebet für die Toten und betrat anschließend die Kirche. Anders als man auf den ersten Blick hätte glauben können, war diese kein Rundbau, sondern hatte einen achteckigen Grundriss. Daher wirkte sie mit dem Altar, auf dem eine in Silber gehüllte Madonnenfigur stand, sowohl vertraut wie auch fremd. Santa Maria de Eunate wirkte strenger als die Kirchen, die sie in Navarra gesehen hatten, und schien trotz des gleichen, warmgelben Sandsteins und des flachen Ziegeldaches einer anderen Zeit anzugehören.
    »Lange bevor ihr Orden verboten und seine Mitglieder ausgerottet wurden, haben fromme Tempelritter diese Kirche errichtet«, berichtete Vater Thomas, als die zwölf nach der heiligen Messe in der Pilgerherberge saßen und zu warmem, weichem Brot und einem Eintopf aus Gemüse, Oliven und Lammfleisch den süffigen Rotwein tranken, der in dieser Gegend gekeltert wurde.
    Sebastian musste sich mit Wasser begnügen, doch als Vater Thomas einmal die Gruppe kurz verlassen hatte, um zum Abtritt zu gehen, reichte Tilla ihrem Freund den gefüllten Becher. »Hier, trink! Du sollst nicht vom Fleisch fallen. Immerhin hast du das Kreuz noch etliche Tage zu schleppen.« Sie tat es, um den anderen zuvorzukommen. Jeder aus der Gruppe sah nämlich so aus, als wolle er Sebastian denselben Samariterdienst erweisen.
    Er sah sie kurz an, nahm den Becher und trank ihn rasch leer. Bedanken konnte er sich nicht mehr, denn da kehrte der Pilgerführerzurück und setzte sich neben ihn. Vater Thomas aß weiter und ließ sich seinen Becher noch einmal nachfüllen. Nach einer kurzen Überlegung reichte er Sebastian den Becher mit beinahe denselben Worten. Damit war allen klar, dass auch Vater Thomas dem Sünder verziehen hatte, und Tilla ertappte sich dabei, dass sie sich darüber freute.

VI.
    Der nächste Tag begann mit einem strahlenden Sonnenaufgang und einem blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte. Sebastian, der als Erster der Gruppe durch die Tür ins Freie blickte, seufzte, denn der schöne Tag kündigte bereits am Morgen eine Hitze an, die ihm auf dem weiteren Weg unter dem schweren Kreuz arg zusetzen würde.
    Die Mönche reichten jedem der Gruppe ein Stück Brot und eine Handvoll Oliven als Wegzehrung und entließen sie mit frommen Wünschen. Tilla und ihre Begleiter hatten jedoch unterwegs noch keine zehn Vaterunser gebetet, da klang hinter ihnen Lärm auf.
    Ambros drehte sich als Erster um und geriet

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