Die Pilgerin
zukam. Der jungenhafte Ausdruck, den sie noch aus der Heimat in Erinnerung hatte, hatte sich auf dieser Reise verflüchtigt.
Tilla fand, dass Sebastian nun weitaus besser aussah als sein Bruder, und es gab keinen anderen jungen Mann in ihrer Heimatstadt, der sich mit ihm messen konnte. Während sie ihn anblickte, machte sich in ihrem Unterleib eine seltsame Empfindung breit, und sie musste den Impuls unterdrücken, um den Baum herumzugehen, bis sie Sebastian ganz von vorne betrachten konnte. Sein Glied, das ihm bei der Hure wohl gute Dienste geleistet hatte, hing nun schlaff zwischen seinen Beinen herab, doch Tilla spürte die Neugier, es zu sehen, wenn es kampfbereit aufgerichtet war.
»Tilla, du bist die Letzte. Versetze ihm deinen Hieb, damit wir weiterziehen können!« Vater Thomas’ Worte rissen sie aus ihrem Grübeln heraus.
Hedwig, die den letzten Streich geführt hatte, drückte ihr die Rute in die Hand. Tilla schluckte, um den Frosch zu vertreiben, der sich in ihrem Hals breit gemacht hatte, und trat vor. Eigentlich hatte sie Sebastian einen eher leichten Schlag versetzen wollen. Die Erkenntnis jedoch, dass er von allen Männern, diesie kannte, wohl der Einzige war, dem sie sich freiwillig hingeben würde, erfüllte sie mit einer fürchterlichen Wut. Ehe sie sich klar wurde, was sie tat, hatte sie weit ausgeholt und mit aller Kraft zugeschlagen.
Der Hieb war hart genug, um Sebastian einen Schrei zu entlocken. Er wandte sich ihr mit schmerzverzerrtem Gesicht zu und wollte seiner Empörung Ausdruck verleihen, als er ihre verletzte Miene sah. Es dauerte einen Augenblick, bis er erkannte, dass Eifersucht und Zorn ihre Hand geführt hatten. Dieses Wissen machte den Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, mehr als wett.
V.
Als die Gruppe auf eine Straße traf, die von Osten auf ihren Weg einmündete, lenkte Vater Thomas seine Schritte in diese Richtung, obwohl ihr Ziel weit im Westen lag. Nach ein paar Schritten wandte er sich zu seinen Schützlingen um, als habe er ihre stumme Frage verstanden. »Auf meinen bisherigen Pilgerfahrten habe ich niemals versäumt, der Heiligen Jungfrau von Eunate meine Ehrerbietung zu erweisen, und ich werde auch diesmal vor sie treten. Der Weg zu ihr ist nicht weit, und wir werden schon morgen wieder nach Westen ziehen.«
Mit diesen Worten ging er weiter und stimmte ein neues Lied zu Ehren der Gottesmutter an. Sebastian, der noch immer fasten musste, schleppte sich mit knurrendem Magen und dem schweren Kreuz auf der Schulter hinter ihm her. Sein Gesicht war verzerrt und seine Augen brannten vom Schweiß. Dennoch mobilisierte er seine letzten Kräfte, denn schlimmer als diese Pein erschien es ihm auch jetzt noch, in diesem fremden Land allein zu bleiben.
Mit einem Mal tat er Tilla leid. Sie schloss zu ihm auf und schnitt ein Stück von der Wurst ab, die sie unterwegs von einer Bäuerin erstanden hatte, und wollte es ihm in den Mund schieben. Sebastian schüttelte jedoch energisch den Kopf. Im selben Augenblick wandte Vater Thomas sich um.
»Du kannst diese Gabe ruhig nehmen, da sie dir aus Liebe gereicht wird. Schließlich sollst du uns unterwegs nicht zusammenbrechen.«
Seine Worte brachten Tilla beinahe dazu, die Wurst wieder einzustecken. Sie hatte sie Sebastian nicht aus Liebe geben wollen, sondern damit er Kraft genug behielt, das Kreuz zu tragen. Dem Blick seiner hungrigen Augen konnte sie jedoch nicht widerstehen. »Da, nimm!«, sagte sie, stopfte ihm den Wurstzipfel in den Mund und ließ sich wieder zurückfallen.
»Das war gut getan«, lobte Hedwig sie. Ebenso wie die Zwillingsschwestern und die meisten Männer der Gruppe hielt sie Sebastians Sünde für nicht so schwer wiegend, dass sie den jungen Mann deswegen verdammte. Da er ihr leid tat, sprach sie ihm Mut zu und bemaß das Stück Brot, das sie ihm einmal am Tag reichen durfte, so reichlich, wie es ihr unter Vater Thomas’ strengen Augen noch vertretbar erschien. Auch Starrheim unterhielt sich mit Sebastian, wenn sie nicht gerade fromme Lieder sangen, und versuchte ihm mit kurzweiligen Erzählungen den Weg zu erleichtern.
Es ärgerte Tilla, dass ihr Jugendfreund durch seine Tat bei den anderen eher noch an Ansehen gewonnen hatte, und sie behandelte ihn, von gelegentlichen Anwandlungen von Mitleid abgesehen, eher schroff und abweisend. Sie kam jedoch nicht dazu, ihrem Ärger über Sebastian allzu lange nachzuhängen, denn Vater Thomas wies nach vorne.
»Dort liegt Santa Maria de Eunate, der Ort, an dem man
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