Die Pilgerin
»Gesündigt? Ich? Ehrwürdiger Vater, ich habe mich stets an die Gesetze der heiligen Kirche gehalten.«
»Mit wie vielen Weibern hast du Hurerei betrieben? Gib es offen zu!« Vater Thomas konnte sich nicht so recht vorstellen, dass Sebastian all die Wochen über keusch geblieben sei.
Der aber hob abwehrend die Hände. »Mit keiner, ehrwürdiger Vater! Denn es gibt eine Frau in meinem Leben, die mir dies niemals verzeihen würde.« Ein etwas scheuer Blick streifte Tilla, die ihm an diesem Tag nachgiebiger erschien als während der langen Reise.
Nun drängte sich Blanche zwischen den Pilgerführer und Sebastian und blickte zu Letzterem auf. »Und wie war es mit Herrn von Starrheim? Hat er vielen Frauen seine Gunst geschenkt?« Ihr Gesicht spiegelte die Angst, von älteren und in Liebesdingen erfahrenen Frauen in den Hintergrund gedrängt worden zu sein.
Sebastian konnte sie jedoch beruhigen. »Freund Rudolf hat ebenfalls kein anderes Weib angesehen, denn sein Herz ist gebunden, seit er Euch das erste Mal erblickte, Doña Blanca.« Er sprach ihren Namen in der kastilischen Form aus, was ihm einen vorwurfsvollen Blick von ihr eintrug. Aber sie war mit seiner Auskunft sehr zufrieden und sehnte eine Begegnung mit Starrheim herbei, die länger dauern sollte als der kurze Augenblick des Vorbeireitens.
II.
Blanche drängte nun die Gruppe, rascher auszuschreiten. Bald sahen sie die mächtigen Türme der großen Kathedrale vor sich aufragen und näherten sich dem Stadttor. Dieses stand weit offen und statt bewaffneter Wachen empfingen Mönche die Wanderer, um sie zu ihren Quartieren zu geleiten.
Zwar ließ König Heinrich den Hauptteil seiner Bewaffneten, die ihn nach Galizien begleitet hatten, vor der Stadt lagern, doch außer den Pilgern waren viele Menschen nach Santiago gekommen, die ihren neuen Herrscher sehen wollten. Daher war die Stadt überfüllt und es gab kaum noch einen Platz zum Schlafen. Tilla und ihre Begleiter wurden von Starrheim jedoch als Angehörige seines Gefolges bezeichnet, und das Wort eines Grafen, der in der Gunst des Königs stand, wog schwerer als das eines provenzalischen Pilgerführers, der mit seiner Gruppe lauthals schimpfend das mit Mühe eroberte Quartier räumen und in den bereits überfüllten Schlafsaal des Hospizes umziehen musste.
Vater Thomas hielt es nicht für gut, dass ihr Aufenthalt in Santiago mit einem hässlichen Streit begann, doch als er am Abend einen Blick in den Saal warf, war er froh um die Kammer, die er und seine Leute sich teilen durften. Unten lagen die Menschen so dicht an dicht, dass die Läuse, wie Sebastian es spöttisch ausdrückte, zwischen den Leibern zerquetscht wurden. Sie selbst hatten kaum mehr Platz, doch es war angenehmer, mit Menschen zu nächtigen, die man kannte und denen man vertrauen konnte.
»Ich schätze, da unten werden heute Nacht etliche Beutel ihre Besitzer wechseln«, sagte Sebastian daher zu Ambros.
Dieser zuckte nur mit den Schultern. »Ich besitze kaum mehrals den Segen des Abtes von Puente la Reina, und den kann ich auf diese Weise nicht verlieren.«
Sebastian musterte den hochgewachsenen Goldschmied und fragte sich, wieso er jemals auf ihn hatte neidisch sein können. Zwar verfügte Ambros über mehr Kraft als die meisten Männer und war mit Händen gesegnet, die aus Gold feinste Kunstwerke formen konnten. Doch der Mut, der zu solch einem Leib gehörte, fehlte dem Mann. Seit dies dem Goldschmied bewusst geworden war, schien er mit seinem Leben zu hadern, und da konnte Sebastian ihm auch nicht helfen. Daher wandte er ihm den Rücken zu und gesellte sich zu Tilla.
»Dein Vater würde sehr stolz auf dich sein«, sagte er, während er ihre Rechte ergriff.
Tilla seufzte und streichelte mit der freien Hand das Zinnkästchen. Auch an dem Gefäß war der lange, harte Weg nicht spurlos vorübergegangen, das Metall war stark verschrammt und wies sogar einige Beulen auf. »Ja, ich habe es geschafft. Doch das ist am wenigsten mein Verdienst. Ohne dich, Vater Thomas, Hedwig und alle anderen wäre ich nie so weit gekommen. Ich weiß nicht, wie ich diese Schuld je werde abtragen können.«
»Du stehst in keines Menschen Schuld«, mischte Vater Thomas sich ein. »Ganz im Gegenteil! Dir haben wir es zu verdanken, dass wir unser Ziel erreicht haben, meine Tochter.«
Er segnete sie mit einer beinahe demütigen Geste und musterte dann das junge Paar. Zu Beginn der Pilgerreise hätte er über den Gedanken gelacht, die beiden könnten sich einmal
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