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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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auch vor innerlichem Schmerz, weil es das letzte Mal sein würde, dass er an dieser Stelle des Segens des großen Apostels teilhaftig werden durfte. Nachdem ihr Pilgerführer weitergegangen war, schoben die anderen Tilla nach vorne. In deren Augen hatte sie diese Ehre am meisten verdient. Auch sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, als sie die Säule umarmte und küsste und ihre Hand in die kleine Vertiefung legte, die bereits unzählig viele Pilger vor ihr berührt hatten.
    »Ich habe es geschafft, Vater!«, flüsterte sie mit einem schier unbeschreiblichen Gefühl des Glücks und hielt das Zinnkästchen kurz an die Säule. In dem Augenblick glaubte sie, ihren Vater dankbar nicken zu sehen, und als sie die Säule verließ, um den Platz im Hintergrund aufzusuchen, von dem aus sie der Messe folgen durfte, presste sie das Herz ihres Vaters mit der Rechten gegen die Brust, während sie ihre Linke so hielt, als führe sie jemand.
    Es sah etwas eigenartig aus, doch Sebastian verstand, was in ihr vorging. Diesen Augenblick musste sie mit dem Geist ihres Vaters teilen. Er empfand Stolz auf die junge Frau, die so beharrlich ihrem Ziel gefolgt war, und die Sehnsucht, endlich mit ihr eins werden zu können, wurde schier übermächtig. Sein Blick flog nach oben, und für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte er über das hohe, gewölbte Dach hinauszublicken und Eckhardt Willinger zu sehen, der seine Hand zu einer segnenden Geste erhob.
    Dann schoben ihn seine Freunde nach vorne zur Säule und er folgte Tillas Beispiel mit einem frohen Schaudern. Blanche kam als Nächste und bat dabei den heiligen Jakobus um die Erfüllungihrer geheimen Wünsche. Auch die anderen traten nun an die Säule, berührten sie und gingen dann mit entrücktem Blick weiter. Ambros vergaß in seiner Freude, diesen Augenblick erleben zu dürfen, seine Schwäche und schritt aufrecht hinter Anna her. Als er hinter Vater Thomas stand, lehnte er sich jedoch unauffällig an einen Mauervorsprung.
    Vorne am Hauptaltar begann nun die heilige Messe, die an diesem Tag um ein Ritual erweitert wurde, denn kurz vor dem Ende trat der Bischof von Santiago auf den vor dem Altar knienden König zu und heftete ihm eine prächtige Jakobsmuschel an den Pilgerhut. Es wirkte wie eine symbolische Krönung und war wohl auch als solche gedacht. Dabei schwangen Ministranten das gewaltige Weihrauchgefäß, welches an langen Ketten von der Decke hing, und erfüllten das Kirchenschiff mit dem aromatischen, wenn auch ein wenig streng riechenden Duft des glimmenden Harzes.
    Währenddessen segnete der Bischof von Santiago alle, die sich in der Kirche befanden, und einer seiner Diakone verlas mit lauter Stimme einen Bibeltext, in dem der heilige Jakobus eine Rolle spielte. Vater Thomas übersetzte seiner Gruppe die lateinischen Worte leise ins Deutsche, während an anderen Stellen sprachkundige Mönche denselben Dienst jenen Pilgern leisteten, die man ebenfalls für würdig erachtet hatte, zu dieser Stunde die Messe zu hören. Mit diesem Dienst wollten sie den Ruhm des heiligen Jakobus und damit auch den des Ortes, an dem er begraben worden war, in die weite Welt hinaustragen lassen.
    Der König, der sich an dieser heiligen Stelle sehr demütig gab, küsste zuletzt noch den Altar und verließ dann das Gotteshaus an der Spitze seines Gefolges. Tilla und die Ihren mussten erneut warten, bis auch sie ins Freie treten konnten. Draußenging die Prozession weiter. Alle, die an der Messe teilgenommen hatten, umrundeten dreimal die gewaltige Kathedrale und beugten ein letztes Mal das Knie. Damit endeten die Zeremonien, und die Pilger waren für den Rest des Tages sich selbst überlassen.
    Zu ihrer Überraschung gesellte sich jetzt auch Sepp zu ihnen, den sie bislang vermisst hatten. Er war bereits vor mehreren Tagen mit einem Trupp Soldaten in Santiago angekommen und hatte seine Wallfahrt ohne Zeugen vollendet. Einesteils bedauerte er es, denn er wäre gerne mit seinen Pilgerfreunden in die Kathedrale eingezogen, zum anderen hatte er sein Gewissen viele Stunden lang im Gebet erleichtern und seinen Gedanken nachhängen können. Für Vater Thomas’ Pilgergruppe war seine frühe Anwesenheit von Vorteil, denn er hatte bereits die Stadt erkundet und führte sie in eine Taverne, die etwas abseits von den Pilgerströmen in der Nähe der Kirche Santa Maria Salomé lag und in der es neben süffigem Wein einen ausgezeichneten Lammbraten gab, der mit den Kräutern dieser Gegend gewürzt

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