Die Pilgerin
ihm geholfen haben, an die Macht zu kommen, ihn und das Gesindel, mit dem er die Stadt regiert, mittlerweile verfluchen. Die bayrischen Söldner haben sich übrigens in deines Vaters Haus breitgemacht, Sebastian, und spielen sich auf, als seien sie die Herrender Stadt. Otfrieds Freund Georg von Kadelburg weilt ebenfalls dort und nimmt in etwa den Posten eines Stadtvogts ein, auch wenn er noch nicht so genannt wird.«
Starrheim stieß einen leisen Fluch aus. »Kadelburg also! Das lässt tatsächlich darauf schließen, dass der Bayer dahintersteckt. Wenn es keine Absprache zwischen meinen Verwandten und Herzog Stephan gibt, dürfen wir nicht zulassen, dass dieser sich Tremmlingen unter den Nagel reißt, denn damit würde er Burgau unmittelbar gefährden. Aber wenn ich euch wirkungsvoll Hilfe leisten soll, benötige ich Beweise, die ich meinen Verwandten vorlegen kann.«
Bei diesen Worten erinnerte Tilla sich daran, wie verbissen ihr Bruder sie hatte verfolgen lassen, um an jene eiserne Schatulle zu gelangen, die sie ihm gestohlen hatte. Es musste mehr darin liegen als nur ihr Heiratsvertrag und das Testament ihres Vaters, und nach Lage der Dinge konnte es sich nur um ein Dokument handeln, das mit den Bayern und Otfrieds Machtergreifung zu tun hatte. Zwar konnte ihr Bruder zu jener Zeit keine große Rolle bei der Verschwörung gespielt haben, doch war es möglich, dass er von Veit Gürtler eingeweiht worden war und dessen Stelle eingenommen hatte. Um dies zu erfahren, musste sie die Schatulle aus Tremmlingen herausholen. Sie konnte nur hoffen, dass Elsa Otfrieds Aufmerksamkeit bisher entgangen war oder zumindest nichts von der Schatulle unter ihrem Fußboden verraten hatte.
»Freund Starrheim, Ihr solltet nach Burgau reiten und mit dem dortigen Landpfleger über die Sache reden. Von ihm erhaltet Ihr gewiss Auskunft über die politische Lage, die für Euer Handeln wichtig ist. Du, Sebastian, und ihr anderen begleitet ihn dorthin, ebenso Hedwig, wenn sie ihre Heimkehr noch ein paar Tage aufschieben kann.«
»Und was willst du tun?«, fragte ihr Mann verwundert.
Auf Tillas Gesicht breitete sich ein zorniges Lächeln aus. »Ich? Oh – ich werde nach Tremmlingen reisen und nachsehen, was dort wirklich geschehen ist.«
»Du bist verrückt!«, fuhr Sebastian auf.
Er erntete ein freundliches »Ja!« von ihr.
NEUNTER TEIL
Die Rückkehr
I.
So mutig, wie sie Sebastian gegenüber getan hatte, fühlte Tilla sich nicht, denn ihr war klar, dass sie die Stadt unerkannt betreten und wieder verlassen musste. Andernfalls würde Otfried von ihrer Rückkehr erfahren, bevor sie das Stadttor passiert hätte. Für einige Augenblicke erwog sie, einfach ihr Gesicht unter dem breitkrempigen Pilgerhut und ihre Gestalt unter der Pelerine zu verbergen. Doch sie traute Otfried zu, jeden Pilger, der in die Stadt kam, ob Mann oder Frau, befragen zu lassen, um Informationen über sie und ihr Schicksal einzuholen.
Daher entschied sie sich, in der Tracht eines reisenden Scholaren aufzutreten. Die dazu gehörenden Kleidungsstücke musste sie für einen hohen Preis bei einem Juden erwerben, der ihr im Gegensatz zu den anderen Händlern jedoch keine unverschämten Fragen stellte. Der weite Talar verbarg ihre weiblichen Formen und ihre Haare konnte sie unter der Mütze aufstecken.
Sebastian nannte sie zwar verrückter als verrückt, doch gelang es ihm nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Zuerst hatte sie sich sogar gefreut, dass er sie bis in die Nähe von Tremmlingen begleiten wollte, aber sie bereute ihre Einwilligung schnell, denn er mäkelte unentwegt an ihrem Gang, ihren Gesten und der Wahl ihrer Worte herum. Sie spürte, dass er außer sich vor Sorge um sie war und am liebsten selbst gegangen wäre. Doch dies war unmöglich, denn ihn hätte man in Tremmlingen in beinahe jeder möglichen Verkleidung erkannt. Sie hingegen hoffte als reisender Scholar den Augen von Otfrieds Zuträgern entgehen zu können. Das sagte sie Sebastian auch und war froh, ihn im letzten burgauischen Dorf vor dem Tremmlinger Umland zurücklassen zu können.
»Gott sei mit dir! Und riskiere nichts«, sagte er mit besorgter Miene und umarmte sie, als wolle er sie nicht mehr loslassen.
»Es wird schon schief gehen.« Tilla versuchte zu grinsen wie ein Junge und machte sich auf den Weg. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Pass auch du auf dich auf, und unternimm um Gottes willen nichts Unüberlegtes!«
»Mach, dass du verschwindest!«
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