Die Pilgerin
Sebastian drohte ihr mit dem Zeigefinger und musste gleichzeitig an sich halten, um ihr nicht zu folgen. Doch ihn würde man in Tremmlingen sofort erkennen, und er hatte wenig Lust, das Schicksal seines Bruders zu teilen. Wenn er in sich hineinhorchte, spürte er, dass ihn die Nachricht von Damians Tod noch immer mit einer unbändigen Wut erfüllte, die für Trauer keinen Platz ließ, und ihm wurde klar, dass er sich in das Abenteuer der Befreiung seiner Heimatstadt gestürzt hatte, um nicht vor Schmerz zu vergehen. Zudem gab es eine geringe Hoffnung, seinen Vater noch lebend anzutreffen und aus dem Kerker herauszuholen. Dazu aber musste er erfahren, wie es in Tremmlingen derzeit zuging, und diese Informationen konnte tatsächlich nur Tilla ihm besorgen. Eine andere Person wäre gegen eine Mauer des Schweigens angerannt, denn die Leute hätten jeden Fremden für einen von Otfrieds Zuträgern gehalten, der allzu forsche Leute in den Kerker bringen wollte.
Während Sebastian sich vor Angst und Sorge beinahe zerfraß, wanderte Tilla mit raschen Schritten die Straße entlang, die nach Tremmlingen führte. Bald kam der Grenzstein in Sicht. Früher war er halb in der Erde versunken und von Moos bedeckt gewesen. Jetzt stand er wieder aufrecht, wohl als ein Symbol, dass die Macht Habsburgs hier zu Ende sei und die des Herrn von Tremmlingen begann. Wäre Otfried gegen Lauxaufgestanden, um sich selbst zum Bürgermeister zu machen, hätte Tilla ihn noch verstanden. In allen Städten flammten hin und wieder Machtkämpfe zwischen den führenden Familien auf, und es wurde ebenso rasch wieder Frieden geschlossen. Doch niemand setzte dabei die Rechte aufs Spiel, die die freien Reichsstädte besaßen.
Der Mord an ihrem Vater und der Tod Damians, der durch ihre Heirat mit Sebastian nun ihr Schwager gewesen wäre, standen wie eine unüberwindliche Mauer zwischen ihr und ihrem Bruder, ganz abgesehen von den Umständen ihrer ersten Heirat, die sie Otfried niemals verzeihen würde. Auf der Rückreise war sie in der Nacht oft wach neben Sebastian gelegen, hatte seinen Atemzügen gelauscht und mit der Erinnerung an jene entsetzliche Brautnacht gekämpft. Dann hatte sie sich an ihren Mann geklammert, um sich zu vergewissern, dass das Schicksal mittlerweile anders für sie entschieden hatte.
Während sie ihren Gedanken nachhing, schritt Tilla durch ein kleines Wäldchen, das bereits zu Tremmlingen zählte. An dessen Ende schüttelte sie sich, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, und blickte auf die mauerumringte Stadt und die Donau, die ein Stück dahinter floss. In weniger als einer Stunde würde sie zu Hause sein, doch es war eine Heimkehr ohne Freude.
Vor ihr strebten einige Bauern dem Stadttor zu und erinnerten sie daran, dass Donnerstag war und Markt abgehalten wurde. Das kam ihren Plänen entgegen, denn unter den vielen Leuten, die Tremmlingen an diesem Tag bevölkerten, würde sie nicht auffallen.
Die Wachen am Tor waren ihr unbekannt. Es handelte sich um drei hochgewachsene, breitschultrige Söldner mit blank polierten Helmen und Kettenhemden, über denen sie ungeniert diebayerischen Farben trugen. Doch auf der Brust des Waffenrocks war jeweils ein Stück Stoff mit dem Wappen Tremmlingens aufgenäht. Bei diesem Anblick beschlich Tilla der Verdacht, die Herrschaft ihres Bruders könne nicht ganz so unumschränkt sein, wie er den Bürgern weismachen wollte. Ihr sah es eher danach aus, als hätten längst die Bayern hier das Sagen. Diese Tatsache ließ sie Hoffnung schöpfen. Wäre Herzog Stephan sich mit seinen Habsburger Nachbarn und vor allem mit Kaiser Karl IV. einig gewesen, dann hätte er die Stadt bereits offen in seinen Machtbereich eingegliedert und sich nicht hinter einem Verräter verstecken müssen.
Sie schritt auf das Tor zu und versuchte dabei das Klopfen ihres Herzens zu überhören. Einer der Söldner stieß gerade ein mageres Bäuerlein herum, der mit einer Schubkarre Gemüse in die Stadt bringen wollte.
»Entweder du zahlst die Torsteuer, oder du kannst dein Gelumpe draußen in den Stadtgraben werfen«, hörte Tilla den Bayern sagen.
»Aber ich musste doch noch nie Steuer zahlen«, jammerte der Bauer.
»Jetzt musst du’s!«, erklärte der Söldner ungerührt und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich habe doch kein Geld bei mir. Zahlen kann ich erst, wenn ich mein Gemüse verkauft habe.«
»Also gut, begleich deine Schulden, wenn du zurückkommst. Aber dann kostet es das Doppelte! Wage aber nicht, dich
Weitere Kostenlose Bücher