Die Pilgerin
Wohnhauses auf, damit sie nicht quietschte, und schlich durch den dämmrigen Flur, um ungehört an der Tür des Kontors vorbeizukommen.
Ihr Bruder musste sie jedoch durchs Fenster gesehen haben, denn er kam heraus, ehe sie die Treppe erreicht hatte. »Da bist du ja endlich! Was hast du dauernd herumzustromern? Immerhin sind wir ein Trauerhaus. Oder hast du etwa vergessen, dass Vater noch keinen Monat unter der Erde liegt?«
Ihr kamen die Tränen, aber weniger wegen der harschen Worte, sondern weil sie ihren Vater vermisste, trotz seiner Launen und all der Arbeit, die seine Pflege ihr gemacht hatte. Er war zwar oft hart und unduldsam gewesen und hatte ihr nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, doch im Gegensatz zu Otfried war er gerecht gewesen und hatte nach außen hin gezeigt, dass er stolz auf sie war. Ihr Bruder hingegen schien ihren Wert zu taxieren, als sei sie nur ein Ballen Tuch.
»Ich war bei Elsa, um ihr ein bisschen zu helfen. Sie kann ihre Hände nicht mehr so flink rühren wie früher.« Das war eine Lüge, denn die alte Frau fertigte immer noch feinere Spitzen an als sie selbst, und Tilla ärgerte sich, weil sie sich von ihrem Bruder zu dieser Ausrede hatte hinreißen lassen.
Otfried achtete jedoch nicht auf den schwankenden Klang ihrer Stimme, sondern stemmte die Hände in die Hüften und musterte sie von oben bis unten. »Wie du nur wieder aussiehst! Gewiss bist du durch die Drecksgassen gelaufen! Nach denen riechst du auch. Es ist eine Schande, dass man dieses stinkende Gesindel in seiner eigenen Umgebung ertragen muss. Laux hätte schon längst etwas gegen diesen Schandfleck unternehmen müssen. Nun ja, bald wird sich einiges in dieser Stadt ändern!« Es währte einen Augenblick, bis Tilla erkannte, dass er mit derSchande nicht sie, sondern die schlimmen Gassen gemeint hatte. Da sie sich nicht noch weitere Ausfälle gegen sich oder andere anhören wollte, verabschiedete sie sich. »Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich auf mein Zimmer gehe und mich umziehe. Ich fürchte, ich habe tatsächlich Dreck ins Haus getragen!«
Ihr Bruder verzog angeekelt das Gesicht. »Tu das. Und wasch dich! Ich will nicht, dass du am Abendbrottisch nach Rinnstein riechst!«
»Das ist gemein!« Tilla ging beleidigt weiter, zog vor der Treppe die Schuhe aus und stellte sie neben die Haustür, damit ein Knecht sie säubern konnte. Dann stieg sie immer noch wütend zu ihrer Kammer hoch. Auf dem Weg nach oben hörte sie, wie ihr Bruder nach Ilga rief und diese anwies, den Flur zu säubern.
»Ach ja, bring meiner Schwester vorher eine Schüssel Wasser auf ihr Zimmer«, setzte er noch hinzu und zog sich in sein Kontor zurück.
Seine Anweisung war Tilla unangenehm, denn seit dem Tod ihres Vaters benahm die Magd sich ihr gegenüber, als sei sie die Hausfrau. Um die Begegnung möglichst kurz zu halten, rannte sie die restlichen Stufen hoch, schlüpfte in ihre Kammer und zog sich aus. Sie hatte wohl ihr Unterkleid nicht richtig geschürzt, denn dessen Saum war tatsächlich arg schmutzig geworden und roch unangenehm. Das war doppelt ärgerlich, weil sie es erst am Morgen frisch angezogen hatte. Mit einem Gefühl des Ekels öffnete Tilla die Tür und warf das Kleidungsstück auf den Flur, damit es in die Wäsche kam. Dann suchte sie in ihrer Kleidertruhe nach Ersatz. Als sie ihr Überkleid an einen Haken hing, um ein frisches Unterkleid anzulegen, ging die Tür auf und Ilga trat ein, ohne angeklopft zu haben.
Die Magd trug eine halbvoll mit dampfendem Wasser gefüllteSchüssel und ließ sich deutlich anmerken, wie wenig es ihr passte, Tilla diesen Dienst erfüllen zu müssen. »Du hast ja ganz schön Dreck hereingebracht. Jetzt muss ich den ganzen Korridor im Erdgeschoss wischen. Dabei ist gar nicht Samstag!«
Tilla fauchte leise. »Jetzt tu nicht so, als würdest du dich überanstrengen. Immerhin bist du für solche Arbeiten angestellt. Ach ja, das nächste Mal klopfst du gefälligst, bevor du hereinkommst.«
»Wie denn? Ich hatte doch keine Hand frei«, gab Ilga patzig zurück und stellte die Schüssel in die dafür vorgesehene Öffnung des Waschtisches. »Dein Bruder sagt, du sollst dich richtig waschen und etwas Besonderes anziehen. Er erwartet heute Abend Gäste.«
Tilla sah sie erschrocken an. »Doch nicht etwa Gürtler?«
»Er hat mir nicht gesagt, wer kommt.« Mit einem Schnauben verließ Ilga die Kammer, denn sie ärgerte sich, weil Tilla sich hinter verschlossener Tür mit warmem Wasser waschen durfte, während
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