Die Pilgerin
kümmerte sich jedoch nicht um ihren Bruder, sondern hob das Kinn und blickte Gürtler verächtlich an. »Damit Ihr’s wisst: Euch werde ich niemals heiraten!«
»Dein Bruder ist dein Vormund und hat den Ehekontrakt unterschrieben. Du wirst ihm gehorchen!« Gürtlers Stimme warnte sie vor weiterem Widerspruch.
Dennoch schüttelte Tilla vehement den Kopf. »Niemals!«
Im selben Augenblick schlug Gürtler zu. Tilla sah seine Hand auf sich zukommen, konnte ihr aber nicht mehr ausweichen. Der Schlag traf ihr Gesicht so hart, dass sie mit dem Kopf gegen die Wand flog. Auf ihren Lippen schmeckte sie Blut, und sie sah Gürtler an, dass er so lange auf sie einprügeln würde, bis sie nachgab.
Empört blickte sie ihren Bruder an. »Wie kannst du zulassen, dass dieser Mann mich schlägt?«
»Es ist sein Recht! Ich habe dich ihm mit Brief und Siegel angelobt, also wirst du von nun an ihm gehorchen.«
»Aber unser Vater hat mich Damian Laux angelobt! Das hat er auch Vater Eusebius gesagt!«, rief Tilla verzweifelt aus.
»Euer Vater ist tot und dein Bruder bestimmt jetzt, was geschieht. Füge dich und hüte dich davor, meinen Zorn zu erregen. Und nun komm! Ich will die Sache hinter mich bringen. Da ihr noch in Trauer seid, ist keine Feier vonnöten. Vater Martins Segen mag uns fürs Erste genügen. Später, wenn die Trauerzeit vorbei ist, laden wir unsere Freunde zum Mahl und lassen die Musikanten aufspielen.«
Gürtler packte Tilla und schleifte sie zu seinem geistlichen Verwandten. Ein anderer Priester hätte sich aufgrund des Gehörtenwohl geweigert, diesem Bund Gottes Segen zu geben. Martin Böhdinger jedoch war froh, dass Gürtler ihm die Versorgung der Witwe und der Kinder seines verstorbenen Bruders abzunehmen bereit war, und murmelte daher die heiligen Worte, ohne sich von dem entsetzensstarren Gesicht der unfreiwilligen Braut abhalten zu lassen.
Tilla glaubte, in einen Albtraum geraten zu sein, und nahm für einen Moment an, sie sei in ihrer Kammer eingeschlafen und würde von einem bösen Geist gepeinigt. Der Geschmack des Blutes auf ihren Lippen und Gürtlers schmerzhafter Griff um ihren Oberarm bewiesen ihr jedoch, dass dies alles tatsächlich stattfand. Sie wurde in einem höhnischen Zerrbild der heiligen Handlung verheiratet. Als sie sich aufbäumte und »Nein!« schrie, verstärkte Gürtler seinen Griff, zwang sie in die Knie und drückte ihren Kopf nieder, so dass sie in dieser demütigen Haltung verharren musste, bis der Geistliche die letzten Worte gesprochen hatte.
»So, nun bist du mein Weib und hast mir zu gehorchen. Vater Martin, gebt nun auch das zweite Paar zusammen!« Gürtler erteilte dem Geistlichen Befehle, als wäre dieser einer seiner Handelsgehilfen und nicht der Inhaber einer stattlichen Pfründe.
Böhdinger gehorchte und bat Otfried und Radegund vor ihn zu treten. Auch bei ihnen haspelte er die heiligen Worte herab und zeichnete das junge Paar mit dem Kreuz. Das Mädchen sah nicht so aus, als habe es eine Ahnung von der Bedeutung dieses Schritts, aber es sonnte sich offensichtlich in der Tatsache, einmal im Mittelpunkt zu stehen.
Regula Böhdinger, eine etwas aus dem Leim gegangene Matrone, wirkte höchst zufrieden, hatte sie doch niemals auf die Verbindung mit einer so einflussreichen Familie hoffen können, und strahlte daher über das ganze Gesicht. Immerhin zählte OtfriedWillinger zu den reichsten Männern der Stadt und – wie ihr Bruder behauptete – auch zu den einflussreichsten. Die Tatsache, dass ihre Tochter Radegund Herrin in diesem Haus werden sollte, söhnte sie ein wenig mit der zweiten Heirat ihres Bruders aus. Nachdem dessen erste Ehe kinderlos geblieben war, hatte sie schon gehofft, er würde ihren Sohn Rigobert zu seinem Erben und Nachfolger bestimmen. Wenn Veit von Tilla Kinder bekam, war daran nicht mehr zu denken. Sie gab die Hoffnung jedoch nicht völlig auf, denn auch diese Ehe musste nicht zwangsläufig von Nachwuchs gesegnet werden. Ihr Bruder behauptete zwar, der Vater mehrerer Bastarde zu sein, doch deren Mütter hatten es gewiss auch mit anderen Männern getrieben.
Im Gegensatz zu seiner Mutter, die Otfried freudestrahlend als ihren Schwiegersohn in die Arme schloss und sich mit der Ehe ihres Bruders abgefunden zu haben schien, vermochte Rigobert Böhdinger seinen Ärger nicht zu verbergen. Seine Aussichten erschienen ihm mit einem Mal so schlecht wie nie zuvor in seinem Leben, und er fragte sich, ob er nicht doch das Angebot seines Onkels, des
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