Die Pilgerin
Wurde dieser gewalttätig, so lag es seinen Predigten nach daran, dass das Weib ihn erzürnt hatte.
Wut und Scham brannten in ihr beinahe schlimmer als der Schmerz und sie fragte sich verzweifelt, wie sie diesem Schicksal entkommen konnte. Es gab keinen Ort, an den sie hätte fliehen können. Aus Elsas Haus würden die Büttel sie sofort wieder herausholen, und wenn sie Pech hatte, sorgte Gürtler nach ihrer Flucht dafür, dass sie als ungehorsame Ehefrau einen Tag am Pranger verbrachte. Wenn sie sich ihm entziehen wollte, würde sie sehr weit weglaufen müssen. Aber dann würde sie das Schicksaldes unehrlichen Volkes teilen und sich zu jenen rechtlosen Frauen gesellen müssen, die kein Zuhause hatten, sondern auf der Landstraße lebten und ihr Dasein fristeten, indem sie ihre Körper verkauften. Eine andere Möglichkeit konnte es vielleicht noch geben, wenn sie einen Weg fand, selbst die Pilgerreise ins ferne Galizien anzutreten, um am Grabe des Apostels Erlösung für ihren Vater zu erflehen – und eine glücklichere Zukunft für sich selbst. Aber dazu benötigte sie Geld und das Herz ihres Vaters – und beides war ihr verschlossen.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete sie sich auf und wollte aus dem Bett steigen, als sie ihren Mann neben sich liegen sah. Um ihn nicht zu wecken, hielt sie mitten in der Bewegung inne und drehte ihr Gesicht angeekelt von ihm weg. Doch lange vermochte sie nicht in dieser Stellung auszuharren. Vorsichtig glitt sie unter der Bettdecke hervor und stand auf.
Gürtler lag so still, dass sie nicht einmal seinen Atem vernahm. Verwundert sah sie sich zu ihm um und presste erschrocken die Hand auf den Mund. Sie hatte erst vor wenigen Wochen ihren Vater tot aufgefunden, und Gürtler wirkte genauso wie dieser. Sein Mund stand halb offen, die Augen waren weit aufgerissen und die Fingernägel seiner linken Hand hatten sich über dem Herzen ins Fleisch gebohrt.
Nach dem ersten Schrecken überwog in Tilla die Erleichterung. Sie wusste nicht, wie der Tod in der Nacht zu ihrem Mann gekommen war, doch er sah aus, als hätte ein strafender Engel ihn gefällt. Die Mächte des Himmels hatten sie wohl doch nicht vergessen und Gürtler für sein rohes Wesen bestraft. Während sie dies dachte, blickte sie an sich herab und betrachtete die Spuren der Misshandlung. Ihr Hintern war, soweit sie erkennen konnte, blau und grün angelaufen, und als sie darübertastete, spürten ihre Fingerkuppen geschwollene Striemen und aufgerisseneHaut. Zwischen ihren Beinen brannte es wie Feuer und sie fürchtete den Augenblick, an dem sie sich auf den Abtritt setzen und Wasser lassen musste.
Dann schalt sie sich eine Närrin. In dieser Situation durfte sie nicht an sich denken, sondern daran, dass ein Toter neben ihr lag. Jeder würde von ihr erwarten, dass sie gellend schrie, bis sämtliche Bewohner des Hauses zusammengelaufen waren. Allerdings wollte sie sich den Leuten weder nackt präsentieren noch ihnen die Spuren der Züchtigung zeigen. Zu ihrem Leidwesen befand sich nur das Kleid in dem Raum, das sie am Abend zuvor getragen hatte, und das hatte durch Gürtlers Hände arg gelitten. Das Hemd, welches sie auf der Haut getragen hatte, war noch am wenigsten zerrissen, und so zog sie es über, hinkte unter Schmerzen zur Tür und schob den Riegel zurück. Dann schrie sie alle Schmerzen hinaus, die sie in der Nacht hatte erleiden müssen.
Unten im Haus wurde es lebendig. »Was soll der Krach?«, hörte sie Gürtlers Schwester Regula rufen, während diese schwerfällig die Treppe hochstieg. »Seid ihr endlich fertig? Zeit wird es!«
»Mein Mann! Er … er rührt sich nicht mehr!« Tilla trat beiseite, so dass Regula Böhdinger in die Kammer treten konnte, und zeigte auf den Leblosen.
Regula starrte ihren Bruder an, ging dann fast ängstlich auf das Bett zu und zupfte an der Decke. »Veit, aufwachen!«
Der Tote blieb jedoch starr und steif liegen. Erst jetzt begriff seine Schwester, dass er nicht in einen besonders tiefen Schlaf gefallen war. »Veit, was ist mit dir?« Ihre Stimme nahm einen schrillen Diskant an und sie kreischte so entsetzt, wie man es von Tilla erwartet hätte.
Innerhalb kürzester Zeit füllte der Raum sich mit Menschen. Zuerst stürmte Regulas Schwester Pankratia herein, dann ihrhochwürdiger Schwager Böhdinger. Diesem folgte Rigobert, der aber trotz des Trubels einen Blick auf Tilla warf, die sich in ihrem dünnen Hemd gegen die Wand gepresst hatte und versuchte, so fassungslos wie möglich
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