Die Pilgerin
auszusehen, damit man ihr ihre Erleichterung nicht anmerken konnte. Auch die jüngeren Kinder der beiden Schwestern und der größte Teil des Gesindes kamen herbeigelaufen, doch die meisten mussten wegen der Enge des Raumes vor der Tür stehen bleiben.
Der Pfarrherr von Sankt Wendelin bemühte sich, Ordnung zu schaffen. »Jetzt seid endlich still!«, herrschte er seine Schwägerin und deren Schwester an und wandte sich dann an Tilla.
»Wie konnte das geschehen?«
Tilla hob hilflos die Hände. »Ich weiß es nicht, Euer Hochwürden. Nachdem G…, mein Mann gestern Abend mit mir getan hat, was Männer im Ehebett so tun, bin ich eingeschlafen und erst jetzt wieder erwacht. Ich wollte ihn wecken und habe ihn da liegen sehen …«
Tilla brach ab und senkte den Kopf, damit ihre Miene verborgen blieb. Am liebsten hätte sie den Leuten ins Gesicht geschrien, wie froh sie über Gürtlers Tod war, doch sie musste so tun, als wäre sie außer sich vor Kummer.
Martin Böhdinger kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern trat neben den toten Kaufherrn und zog die Decke ganz von ihm herunter. Gürtler lag in einer seltsamen Starre, die Beine weit von sich gestreckt, und sein Mund sah aus, als warte er noch auf den Schrei, den er ausstoßen sollte.
»Wie es aussieht, hat ihn der Schlag getroffen«, kommentierte der Geistliche, als sei er nur ein zufälliger Beobachter. »Auf alle Fälle ist es ein schwerer Verlust für uns alle. Ich werde für meine Pfarrei wohl einen Kooperator bestimmen müssen, der mich vertritt, damit ich euch in dieser schweren Stunde beistehenkann. Mit Veit ist nicht nur ein Mensch von uns gegangen, sondern auch ein bedeutender Kaufherr und Besitzer eines großen Vermögens, das verwaltet werden muss. Ihr Frauen seid dazu nicht in der Lage und eure Söhne sind noch zu jung für eine solche Verantwortung.« Er sagte das so, als wäre Tilla gar nicht vorhanden.
Während Regula zustimmend nickte, zog ihre Schwester ein Gesicht, als hätte sie in einen Essigschwamm gebissen. Wenn Böhdinger hier das Regiment ergriff, so würde die Erbschaft vor allem seiner Verwandtschaft zugutekommen und weniger ihr selbst und ihren Kindern. Rasch winkte Pankratia Heinz, ihren ältesten Sohn, zu sich und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Der Junge blickte sie etwas erstaunt an, nickte dann aber und verließ das Zimmer.
Der Pfarrherr schien mehr Interesse an seiner Zukunft als Regierer des Handelshauses zu haben als an dem Toten selbst, denn er zeigte keine Spur von Trauer und verschwendete offensichtlich auch keinen Gedanken an das Seelenheil des Dahingeschiedenen. Stattdessen erteilte er etliche Befehle, die vom Gesinde widerspruchslos befolgt wurden. Die Leute waren gewöhnt zu gehorchen und hofften wohl, der Priester würde sich als sanfterer Herr erweisen.
Tilla kam sich mit einem Mal völlig überflüssig vor und überlegte schon, ob sie die Situation ausnützen und verschwinden konnte. Gerade, als sie sich fragte, wie sie an Kleidung kommen konnte, wandte Böhdinger ihr seine Aufmerksamkeit zu. »Kannst du dich nicht anziehen, wie es einem Christenmenschen am helllichten Tag zukommt?«
»Ich würde gerne, doch mein Kleid …« Tilla stockte kurz und wies auf ihr zerrissenes Gewand. »Mein Ehemann hat sich als sehr leidenschaftlich erwiesen und meine Aussteuer ist bis jetztnoch nicht hergebracht worden. Daher habe ich nichts, mit dem ich meine Blöße bedecken könnte.«
Der Priester streifte die Überreste des Kleides mit einem verächtlichen Blick und drehte sich zu Pankratia um, die etwas größer war als seine Schwägerin. »Hole eines von deinen Kleidern für Ottilie. Das mag fürs Erste reichen.«
Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck eilte Pankratia hinaus und kam nach einiger Zeit mit etwas zurück, das sich nur wenig von einem Putzlumpen unterschied und sich als schmutzig braunes, fadenscheiniges Gewand entpuppte.
Tilla war jedoch froh, überhaupt etwas anziehen zu können, auch wenn ihr das Kleid viel zu weit war und nur bis zu den Waden reichte. Ihren Plan, Gürtlers Haus zu verlassen und nach Hause zurückzukehren, konnte sie darin jedoch nicht in die Tat umsetzen, denn in diesem Aufzug würden ihr die Gassenjungen folgen und sie mit Dreck bewerfen. Während sie noch überlegte, wie sie an ein unauffälligeres Kleid kommen konnte, drang von unten Lärm herauf. Es hörte sich so an, als beträten etliche Leute das Haus und würden schwere Lasten schleppen.
Gleich darauf ertönte die
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