Die Pilgerin
Tunichtguts, der sie zu Hause meist nur geärgert hatte. Gleich darauf meldete sich ihr schlechtes Gewissen, erinnerte sie sich doch auch an einige nette gemeinsame Erlebnisse. Doch sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen und ein Ziel zu erreichen, und da war in ihrem Herzen kein Platz für die freundschaftlichen Gefühle, die Sebastian durch seine offensichtliche Sorge um sie in ihr geweckt hatte.
»Mein lieber Vetter, geh ruhig mit dem ehrwürdigen Bruder. Seinen Zuspruch hast du gewiss nötiger als den meinen!«, spottete sie.
Damit überspannte sie den Bogen und Sebastian fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum. »Wer der größere Sünder von uns beiden ist, muss sich noch zeigen, Otto. Ich könnte Dinge über dich erzählen, die deinen Begleitern die Haare zu Berge stehen lassen würden.«
Für einige spannungsgeladene Augenblicke lag die Aufdeckung von Tillas Geschlecht in der Luft, doch Vater Thomas entschärfte die Lage mit einem freundlichen Lächeln. »Welch ein großer Sünder Otto ist, hat er mir bereits gebeichtet, mein Sohn. Doch wird die Wallfahrt zum Grab des Apostels seine jetzt noch schuldbeladene Seele reinigen.« Mit diesen Worten schob er Sebastian auf eine der Bänke zu, auf denen bereits die übrigen Wallfahrer auf ihre Suppe warteten.
Die Mönche von Einsiedeln begannen nun, das Essen auszuteilen, und innerhalb weniger Herzschläge sank der bisher recht beachtliche Geräuschpegel auf ein eher geringes Maß. Sebastian fand sich zwischen dem Karmeliter und einem dicken Pilger mittleren Alters wieder, der, wie sein abgetragenes Gewand und die am Hut befestigte Jakobsmuschel verrieten, seine Pilgerfahrt bereits hinter sich gebracht hatte. Nun war der Mann willens, die jüngere Generation an seinen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Obwohl er leise sprach und seine Rede so leiernd klang, als habe er sie auswendig gelernt, gab Sebastian sich den Anschein eines eifrigen Zuhörers, denn das schien ihm die einzige Möglichkeit zu sein, einer Unterhaltung mit dem Karmelitermönch aus dem Weg zu gehen. Während er sich bei dem Vortrag des von seiner Wichtigkeit erfüllten Pilgers bald langweilte, nahm er wahr, dass Tilla sich bestens zu amüsieren schien. Obwohl sie die übrigen Mitglieder ihrer Pilgergruppe wie ein Knecht bedienen musste, lachte sie immer wieder über die Bemerkungen, die der baumlange Kerl in ihrer Begleitung von sich gab. Dabei schaute sie ein paarmal zu ihm herüber und wirkte schadenfroh, wohl weil man ihm die schlechte Laune deutlich ansehen konnte.
In Sebastians Augen hätte sie eine kräftige Tracht Prügel verdient, und er wäre gern derjenige gewesen, der sie ihr verabreichen durfte. Aber leider waren ihm die Hände gebunden, und als die Einsiedeler Mönche die von ihnen verköstigten Pilger dazu aufforderten, das Abendgebet zu sprechen und sich zum Schlafen zurechtzumachen, schlüpfte Tilla aus dem Saal. Sebastian aber gelang es nicht, den Karmeliter auf Abstand zu halten, und er ärgerte sich nicht nur über das Ungeziefer, das er sich von diesem eingefangen hatte. Dabei hatte es beim letzten Mal schon Tage gedauert, wenigstens die Flöhe loszuwerden.
XII.
Zu seiner großen Erleichterung gelang es Sebastian am nächsten Morgen erneut, dem Karmeliter zu entkommen, denn es waren Ordensbrüder des Mönchs in Einsiedeln erschienen und hatten Bruder Carolus, wie sie ihn nannten, zu einem gemeinsamen Gebet aufgefordert. Das konnte dieser ihnen nicht abschlagen, wenn er nicht in den Ruch der Häresie kommen wollte. Deshalb versuchte er, Sebastian zu überreden, mit ihnen zu beten. Doch seine Mitbrüder wehrten die Begleitung des Pilgers barsch ab und forderten Sebastian nicht sehr freundlich auf, seine Reise allein fortzusetzen. Anscheinend kannten sie Bruder Carolus’ Neigungen und nahmen an, Sebastian würde diese mit ihm teilen. Der junge Mann überlegte kurz, ob er die Tatsachen richtigstellen sollte, bemerkte aber im gleichen Augenblick, dass Tilla zusammen mit Vater Thomas’ Gruppe das Pilgerhospiz verließ. Rasch schnappte er sich seine Tasche und seinen Wanderstab und eilte hinter ihnen her.
Auch an diesem Morgen lehnte Vater Thomas es ab, Sebastian in seine Schar aufzunehmen, aber er schlug ihm vor, ihnen zu folgen und sich unterwegs stets sechs Dutzend Schritte von der Gruppe fernzuhalten. Ganz wegschicken wollte der Pilgerführerden jungen Mann nicht, denn einer der beiden neu angekommenen Karmeliter hatte Andeutungen über Bruder Carolus fallen lassen, die ihm
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