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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Gehirn eine Schraube lockert oder an deinem Körper ein Draht reißt, löst sich deine Konzentration auf wie Morgendunst. Wehe, ein Backenzahn schmerzt oder eine Schulter ist steif, schon kannst du nicht mehr richtig Klavier spielen. Glaub mir! Ich habe es selbst erlebt. Ein kaputter Zahn, eine steife Schulter, und es ist vorbei mit der schönen Vision und dem schönen Klang. Der menschliche Körper ist ein zerbrechliches Gebilde. Sein System ist so kompliziert, dass es ständig an Kleinigkeiten scheitert. Meist ist so was schwer zu beheben. Zahnschmerzen und steife Schultern lassen sich vielleicht noch heilen, aber vieles ist auch unheilbar. Was zählt also Talent, wenn es auf einer so unkalkulierbaren, unzuverlässigen Basis beruht?«
    »Mag sein, dass Talent etwas Flüchtiges ist. Bestimmt gibt es nur wenige Menschen, die es sich bis zum Schluss erhalten. Aber es erzeugt bisweilen einen gewaltigen geistigen Sprung. Als eigenständiges, universelles, das Individuum transzendierendes Phänomen.«
    Midorigawa musste einen Moment überlegen.
    »Mozart und Schubert sind jung gestorben, aber ihre Musik lebt ewig. Ist es das, was du mir sagen willst?«
    »Ja, zum Beispiel.«
    »Solche Menschen sind Ausnahmetalente. Mit ihrem allzu frühen Tod zahlen sie einen hohen Preis für ihr Genie. Es ist, als würden sie ihr Leben in die Waagschale werfen. Ob sie den Handel mit Gott oder dem Teufel machen, weiß ich nicht.« Midorigawa seufzte und schwieg einen Moment lang. »Das ist jetzt etwas anderes«, fügte er hinzu. »Aber um die Wahrheit zu sagen, ist der Zeitpunkt meines Todes nicht mehr fern. Ich habe nur noch ungefähr einen Monat zu leben.«
    Nun war es Haida, der nachdenken musste. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Ich bin nicht krank oder so was«, sagte Midorigawa. »Ich bin sogar ziemlich gesund. Ich habe auch nicht vor, Selbstmord zu begehen. Falls du das denkst, ist deine Sorge überflüssig.«
    »Und woher wissen Sie das mit dem einen Monat?«
    »Weil jemand mir vor einem Monat gesagt hat, ich hätte noch zwei Monate zu leben.«
    »Und wer war das?«
    »Kein Arzt und auch kein Wahrsager. Ein ganz normaler Mensch. Allerdings wird er zum selben Zeitpunkt sterben.«
    Der junge Haida ließ sich durch den Kopf gehen, was Midorigawa gesagt hatte, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. »Sind Sie hierhergekommen, um zu sterben?«
    »Vereinfacht ausgedrückt.«
    »Ich verstehe das nicht richtig, aber gäbe es für Sie denn keine Möglichkeit, dem Tod zu entgehen?«
    »Es gibt nur eine«, sagte Midorigawa. »Ich müsste das Zeichen des Todes an jemand anderen weitergeben. Kurz gesagt, ich müsste jemanden finden, der an meiner Stelle stirbt. Den Stab an ihn weiterreichen und verschwinden. ›Besten Dank und bis bald.‹ Das würde genügen, um dem Tod vorläufig zu entgehen. Aber ich habe nicht die Absicht, zu diesem Mittel zu greifen. Ich wünsche mir schon länger, möglichst bald zu sterben. Es kommt mir wie gerufen.«
    »Sie haben also nichts dagegen, jetzt zu sterben?«
    »Ehrlich gesagt ist mir das Leben eine Last. In Kürze zu sterben macht mir überhaupt nichts aus. Ich hätte nicht die Energie, meinem Leben aktiv ein Ende zu setzen, aber den Tod ruhig hinnehmen, das kann ich.«
    »Aber wie sähe das denn konkret aus, wenn Sie einem anderen dieses Zeichen übergeben würden?«
    Midorigawa zuckte mit den Schultern. »Ganz einfach. Der andere versteht, was ich sage, akzeptiert es und stimmt den Bedingungen zu. Dann kann er das Zeichen in gegenseitigem Einverständnis übernehmen. Damit ist die Übergabe glücklich vollzogen. Man muss nichts sagen. Ein Handschlag genügt, und die Sache ist perfekt. Man braucht weder Brief und Siegel noch einen schriftlichen Vertrag. Alles ganz unbürokratisch.«
    Der junge Haida sah ihn fragend an. »Aber es ist doch bestimmt nicht so einfach, jemanden zu finden, der freiwillig einen baldigen Tod übernimmt.«
    »Ja, das ist wirklich die wichtigste Frage«, sagte Midorigawa. »Etwas so Haarsträubendes kann man doch nicht ohne Weiteres jemandem vorschlagen. ›Entschuldigen Sie, aber würden Sie vielleicht an meiner Stelle sterben?‹ Der andere muss sich natürlich definitiv entscheiden. Und ab hier wird die Geschichte etwas kompliziert.«
    Midorigawa sah sich langsam um und räusperte sich.
    »Jeder Mensch hat seine eigene Farbe, wusstest du das?«
    »Nein.«
    »Dann will ich es dir mal erklären. Also, jeder einzelne Mensch hat seine eigene Farbe, die den Umriss

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