Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
diese Fähigkeit ist es wert, sein Leben dafür einzutauschen, auch wenn sie zeitlich begrenzt ist?«
Midorigawa nickte. »Sie ist es wert. Das garantiere ich dir.«
Der junge Haida schwieg.
»Wie sieht es aus?« Ein Lächeln erschien auf Midorigawas Gesicht. »Bekommst du allmählich Interesse, das Zeichen des Todes zu übernehmen?«
»Eines würde ich Sie gern fragen.«
»Was denn?«
»Bin ich möglicherweise einer dieser Menschen, die diese bestimmte Farbe und Intensität des Lichts besitzen? Einer von diesen ein- oder zweitausend?«
»Na klar. Das habe ich sofort erkannt, als ich dich das erste Mal sah.«
»Also bin ich auch einer dieser Menschen, die auf der Suche nach dem Sprung sind?«
»Tja, das weiß ich nicht. Diese Frage müsstest du dir wohl eher selbst stellen.«
»Aber Sie haben ja ohnehin keine Lust, das Zeichen weiterzugeben.«
»Tut mir leid«, sagte der Pianist. »Ich sterbe. Ich habe nicht die Absicht, dieses Privileg aufzugeben. Ich bin sozusagen ein Vertreter, der seine Ware nicht verkaufen will.«
»Und was passiert mit dem Zeichen, wenn Sie sterben?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht verschwindet es einfach mit mir. Oder es bleibt in irgendeiner Form zurück. Und wird weitergereicht. Wie Wagners Ring. Keine Ahnung. Ehrlich gesagt ist mir das auch egal. Ich trage keine Verantwortung für das, was nach meinem Tod zurückbleibt.«
Der junge Haida versuchte seine Gedanken zu ordnen. Aber es wollte ihm nicht recht gelingen.
»Was ist? Ist die Geschichte nicht ganz logisch?«
»Sie ist hochinteressant, aber es fällt mir nicht gerade leicht, sie zu glauben«, gab der junge Haida zu.
»Weil es keine logische Erklärung dafür gibt?«
»Genau.«
»Beweisen kann ich es auch nicht.«
»Es gibt keinen Beweis dafür, dass diese Transaktion wirklich stattfindet, stimmt’s?«
Midorigawa nickte. »Genau. So ist es. Wenn man den Sprung nicht wirklich macht, hat man keinen Beweis. Und wenn man ihn macht, braucht man keinen mehr. Etwas dazwischen gibt es nicht. Entweder man springt oder man springt nicht. Eines von beidem.«
»Sie haben keine Angst zu sterben?«
»Das Sterben bereitet mir keine Sorgen. Wirklich nicht. Ich habe schon eine Menge Gesindel sterben sehen. Und sogar die haben es geschafft. Es ist unmöglich, dass ich es nicht schaffe.«
»Wie sieht es mit dem aus, was danach kommt?«
»Meinst du das Jenseits, das Leben nach dem Tod oder so?«
Haida nickte.
»Ich habe beschlossen, nicht darüber nachzudenken.« Midorigawa rieb sich das Kinn. »Es ist sinnlos, über etwas nachzudenken, das man nicht wissen kann. Auch wenn ich es wüsste, könnte ich es ja nicht überprüfen. Das hieße, eine Hypothese gefährlich weit auszudehnen, wie du sagen würdest.«
Der junge Haida holte tief Luft. »Warum haben Sie mir diese Geschichte erzählt?«
»Bis jetzt habe ich sie noch niemandem erzählt und werde es auch nicht noch einmal tun.« Midorigawa trank seinen Sake aus. »Ich hatte die Absicht, still und allein zu verschwinden. Aber als ich dich sah, dachte ich, vielleicht ist dieser Mann es wert, dass ich es ihm erzähle.«
»Sie wollten sehen, ob ich Ihnen glauben würde oder nicht?«
Midorigawa warf ihm einen schläfrigen Blick zu und gähnte verhalten. »Es ist mir völlig egal, ob du mir glaubst oder nicht. Früher oder später wirst du es sowieso tun. Auch du wirst irgendwann sterben. Und dann – obgleich ich nicht weiß, wann und wie der Tod zu dir kommen wird – wirst du dich an das erinnern, was ich dir erzählt habe. Es voll und ganz akzeptieren und gewiss auch die Logik in dieser Geschichte verstehen. Die wahre Logik. Ich habe nur den Keim gelegt.«
Offenbar hatte es wieder begonnen zu regnen. Der weiche, leichte Regen ging lautlos im Rauschen des Bergbachs unter. Nur an der leichten Veränderung der Luft auf der Haut spürte man, dass es regnete.
Plötzlich kam es Haida unwirklich, gespenstisch und widernatürlich vor, in diesem engen Zimmer Midorigawa gegenüberzusitzen. Eine Art Schwindelgefühl ergriff ihn. Ihm war, als nähme er in der stehenden Luft den Geruch des Todes wahr. Den Geruch langsam verwesenden Fleisches. Doch das war wohl nur eine Sinnestäuschung. Noch war hier niemand gestorben.
»Du wirst sicher bald nach Tokio an die Universität zurückkehren«, sagte Midorigawa leise. »Dein normales Leben wieder aufnehmen. Und es ordentlich leben. So schal und flach es auch sein mag, allein schon es zu leben hat einen Wert. Das garantiere ich dir. Ohne Ironie
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