Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
oder Paradoxie. Aber für mich ist dieser Wert zur Last geworden. Und ich kann nicht mehr gut damit leben. Vielleicht bin ich von Natur aus nicht dazu geeignet. Also verstecke ich mich an einem ruhigen, dunklen Plätzchen und harre aus wie eine sterbende Katze, bis meine Zeit kommt. Für mich ist das nicht schlecht. Aber du bist anders. Du kannst die Last tragen. Benutze den Faden der Logik, um dir den Wert des Lebens so fest wie möglich an den Leib zu nähen.«
»Und damit endet die Geschichte«, sagte Haida, der Sohn. »Zwei Tage nach diesem Gespräch verließ Midorigawa morgens die Pension, während mein Vater außerhalb etwas zu erledigen hatte. Es hieß, er sei ebenso unversehens, wie er gekommen war, mit der Tasche über der Schulter die drei Kilometer den Bergpfad zur Bushaltestelle hinuntergewandert. Wohin er wollte, wusste niemand. Die Rechnung habe er schon am Vortag bezahlt. Er hat meinem Vater nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Seine einzige Hinterlassenschaft war ein Haufen gelesener Krimis. Nicht lange danach kehrte mein Vater nach Tokio zurück und nahm sein Studium wieder auf. Ob es die Begegnung mit Midorigawa war, die ihn veranlasst hat, sein Vagabundenleben aufzugeben, weiß ich nicht. Aber aus dem, was er erzählt hat, schließe ich, dass dieses Ereignis keinen geringen Einfluss auf ihn hatte.«
Haida setzte sich auf dem Sofa zurecht und rieb sich mit den langen Fingern bedächtig die Knöchel.
»Als mein Vater wieder in Tokio war, suchte er nach einem Jazzpianisten mit dem Namen Midorigawa. Ohne Erfolg. Wahrscheinlich hatte er einen falschen Namen benutzt. Und mein Vater hat nie erfahren, ob der Mann wirklich nach einem Monat gestorben ist.«
»Aber dein Vater ist bei guter Gesundheit?«, fragte Tsukuru.
Haida nickte. »Seine Zeit ist noch nicht abgelaufen.«
»Hat dein Vater wirklich geglaubt, was dieser Midorigawa ihm erzählt hat? Oder dachte er, man hätte ihn mit einer guten Geschichte zum Besten gehalten?«
»Tja, ich weiß auch nicht. Aber wahrscheinlich hat er sich diese Frage gar nicht gestellt. Sicher hat er diese seltsame Geschichte einfach als seltsame Geschichte akzeptiert. Und sie, wie eine Schlange ihre Beute, mit Haut und Haaren verschlungen und langsam verdaut.«
Haida stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Jetzt bin ich aber doch ziemlich müde. Wollen wir allmählich schlafen gehen?«
Es war fast ein Uhr nachts. Tsukuru zog sich in sein Schlafzimmer zurück, und Haida richtete sich auf der Couch ein und löschte das Licht. Als Tsukuru ausgezogen im Bett lag, vermeinte er das Rauschen des Bergbachs zu hören. Aber das bildete er sich natürlich nur ein. Schließlich waren sie mitten in Tokio. Bald fiel er in einen tiefen Schlaf.
In dieser Nacht geschahen einige seltsame Dinge.
6
Tsukuru Tazaki schickte Sara Kimoto eine Mail, in der er sie zum Essen einlud. Fünf Tage war es her, dass sie zusammen in der Bar in Ebisu gewesen waren. Ihre Antwort kam aus Singapur. In zwei Tagen sei sie wieder in Japan. Am kommenden Samstagabend habe sie frei. »Das trifft sich sehr gut. Ich möchte ohnehin etwas mit dir besprechen«, schrieb sie.
Besprechen? Was konnte das sein? Tsukuru hatte keine Vorstellung. Aber bei dem Gedanken, Sara wiederzusehen, hellte seine Stimmung sich auf, und er begriff, wie sehr er sich nach ihr sehnte. Wenn er sie eine Weile nicht sah, wurde ihm bewusst, dass ihm etwas Entscheidendes fehlte, und er verspürte ein Ziehen in der Brust. Ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gehabt hatte.
Während der nächsten drei Tage war Tsukuru stark von seiner Arbeit in Anspruch genommen. Durch die gemeinsame Nutzung der Schienen durch verschiedene Eisenbahngesellschaften, die unterschiedliche Waggontypen verwendeten, waren gewisse Sicherheitsprobleme aufgetreten. (Warum hatte man ihm diese wichtige Information bisher vorenthalten?) Um diese zu beheben, mussten auf mehreren Bahnhöfen dringende Arbeiten an den Bahnsteigen durchgeführt werden, die in seinen Aufgabenbereich fielen und die ganze Nacht lang andauerten. Dennoch schaffte er es irgendwie, von Samstagabend bis Sonntag freizubekommen. Er fuhr direkt von der Arbeit, noch seine Bürokleidung tragend, zu seiner Verabredung mit Sara nach Aoyama. In der U-Bahn schlief er so fest ein, dass er es fast versäumt hätte, in Akasaka-mitsuke umzusteigen.
»Du siehst sehr müde aus«, sagte Sara mit einem Blick in sein Gesicht.
Tsukuru erzählte ihr in möglichst wenigen und verständlichen Worten, dass er in
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