Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
verließ, so wie Wasser, das durch ein kleines Loch aus einem Beutel sickert. Die umgebenden Geräusche entfernten sich, und nur Saras Stimme drang noch leise zu ihm durch. Aber auch sie war nur ein fernes, bedeutungsloses Echo, als spreche sie vom Grund eines Schwimmbeckens zu ihm. Er nahm all seine Kraft zusammen und steckte den Kopf aus dem Wasser. Die Laute bekamen endlich wieder einen Sinn.
»… Ich wollte dir die genaueren Umstände ihres Todes nicht aufschreiben, weil ich es für besser halte, wenn du sie selbst herausfindest. Auch wenn es vielleicht etwas dauert.«
Tsukuru nickte mechanisch.
Vor sechs Jahren? Vor sechs Jahren war sie dreißig Jahre alt gewesen. Erst dreißig. Tsukuru versuchte sich Shiro mit dreißig Jahren vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Er sah sie immer nur als sechzehn- oder siebzehnjähriges Mädchen vor sich. Das machte ihn furchtbar traurig. Wie gern hätte er all diese Jahre mit ihr verbracht, aber es war ihm verwehrt gewesen.
Sara beugte sich über den Tisch und legte sacht ihre kleine warme Hand auf seine. Tsukuru war dankbar für die liebevolle Berührung, empfand sie aber zugleich als etwas, das sich zufällig irgendwo anders, weit fort, zur gleichen Zeit abspielte.
»Es tut mir leid, dass so etwas dabei herausgekommen ist«, sagte Sara. »Aber irgendwann hättest du es ja erfahren müssen.«
»Ich weiß«, sagte Tsukuru. Natürlich wusste er das. Aber er brauchte Zeit, um diese Nachricht zu verarbeiten. Sie konnte nichts dafür, niemand konnte etwas dafür.
»Ich muss gehen«, sagte Sara mit einem Blick auf ihre Uhr. Sie gab ihm den Umschlag. »Das Material über deine vier Freunde ist hier ausgedruckt. Allerdings steht da nur das Minimum. Denn ich glaube, das Wichtigste für dich ist, sie zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Dann wirst du auch die näheren Einzelheiten herausfinden.«
»Danke für alles«, sagte Tsukuru. Er suchte nach den passenden Worten. Es dauerte einen Moment, bis er sie fand.
»Ich rufe dich an und erzähle dir, wie es gelaufen ist.«
»Gut, ich warte auf deinen Anruf. Und sag mir Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann.«
Tsukuru bedankte sich noch einmal.
Sie gingen hinaus und verabschiedeten sich vor dem Café. Tsukuru blieb auf der Straße stehen und blickte Sara nach. Sie winkte ihm noch einmal zu, dann verschwand ihr leichtes kaffeebraunes Sommerkostüm in der Menge. Er wäre gern noch etwas mit ihr zusammengeblieben, hätte gern mehr Zeit in Ruhe mit ihr verbracht und geredet. Aber natürlich hatte sie ihr eigenes Leben, das sich zum größten Teil an ihm unbekannten Orten abspielte und aus Dingen bestand, die nichts mit ihm zu tun hatten.
In der Tasche seines Jacketts steckte der Umschlag, den er von Sara bekommen hatte, darin die säuberlich gefalteten Lebensläufe seiner vier Freunde in Kurzform. Eine von ihnen gab es schon nicht mehr. Sie war zu einer Handvoll weißer Asche geworden. Ihre Gedanken, ihre Weltsicht, ihre Empfindungen, ihre Wünsche und Träume – alles verschwunden. Spurlos. Geblieben war nur die Erinnerung an ihr langes, glattes schwarzes Haar, an ihre schönen Finger auf dem Klavier, ihre wie Porzellan schimmernden, weißen, anmutigen (und dabei seltsam ausdrucksvollen) Waden und an ›Le mal du pays‹ von Franz Liszt, das sie so oft gespielt hatte. An ihr feuchtes Schamhaar und ihre harten Brustwarzen. Nein, das war keine Erinnerung. Das war – nein, er wollte nicht mehr daran denken.
An eine Straßenlaterne gelehnt, überlegte Tsukuru, wohin er gehen sollte. Die Zeiger seiner Uhr standen auf kurz vor sieben. Der Himmel war noch nicht ganz dunkel, aber die Schaufenster an der Straße strahlten von Minute zu Minute heller und einladender. Es war noch früh, und er hatte nichts Besonderes vor. Er wollte noch nicht nach Hause gehen, wollte nicht allein in der Stille sein. Schließlich konnte er gehen, wohin es ihm beliebte. Fast überallhin. Doch ein konkreter Ort wollte ihm nicht einfallen.
Vielleicht sollte er in einem Moment wie diesem etwas trinken. Jeder andere Mann würde wahrscheinlich in eine Kneipe gehen und sich betrinken. Aber er vertrug nur ein bestimmtes Maß an Alkohol. Statt seinen Kummer zu dämpfen und angenehmes Vergessen herbeizuführen, riefen alkoholische Getränke bei ihm nur Kopfschmerzen am nächsten Morgen hervor.
Also, wo sollte er hin?
Im Grunde gab es keinen Ort, an den er gehen konnte.
Er ging die Hauptstraße entlang zum Bahnhof Tokio, betrat ihn durch eine Fahrkartensperre
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