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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hatte Olga gesagt.
    Damit hat sie absolut recht, dachte Tsukuru, während er seinen Wein trank. Manche waren sogar zu kompliziert, um sie sich selbst zu erklären, geschweige denn anderen. Und versuchte man es mit Gewalt, kamen nur Unwahrheiten heraus. Morgen würde er sicher klarer sehen als jetzt. Darauf konnte er warten. Und wenn nicht, war auch nichts daran zu ändern. Gar nichts. Der farblose Herr Tazaki konnte sein farbloses Leben weiterführen. Und niemand würde Anstoß daran nehmen.
    Er dachte an Sara. An ihr mintgrünes Kleid, ihr heiteres Lachen und den Mann, mit dem sie Hand in Hand die Straße entlanggegangen war. Aber diese Gedanken brachten ihn auch nicht weiter. Die Herzen der Menschen waren wie Nachtvögel. Sie warteten still auf etwas, und wenn die Zeit dafür gekommen war, flogen sie geradewegs darauf zu. Er schloss die Augen und lauschte den Klängen des Akkordeons. Die einfache Melodie übertönte das lebhafte Stimmengewirr. Wie ein Nebelhorn das Rauschen der Wellen.
    Tsukuru trank seinen Wein zur Hälfte aus, legte ein paar Münzen auf den Tisch und stand auf. In den Hut des Akkordeonspielers warf er einen Euro und streichelte, wie es alle taten, im Vorübergehen den Kopf des an der Laterne festgebundenen Hundes, der jedoch reglos sitzen blieb wie eine Statue. Tsukuru schlenderte zurück zu seinem Hotel. Unterwegs kaufte er an einem Kiosk eine Flasche Mineralwasser und eine detailliertere Karte vom Süden Finnlands.
    Auf einem Grünstreifen in der Mitte der großen Straße standen ein paar steinerne Schachtische, und einige ältere Männer vertrieben sich die Zeit mit mitgebrachten Schachfiguren. Im Gegensatz zu den Gästen in der Pizzeria verhielten sie sich absolut still. Auch die Zuschauer sprachen kein Wort. Zum Nachdenken brauchten sie vollkommene Stille. Viele Passanten hatten einen Hund bei sich. Auch die Hunde verhielten sich sehr still. Als er weiter durch die Straßen ging, trug der Wind ihm hin und wieder den Geruch von gebratenem Fisch oder Kebab zu. Auch ein Geschäft mit bunten Sommerblumen hatte noch geöffnet, obwohl es schon neun war. Man konnte fast vergessen, dass es Abend war.
    Im Hotel bat er, um sieben geweckt zu werden. Einer plötzlichen Eingebung folgend erkundigte er sich, ob es in der Nähe ein Schwimmbad gebe.
    Die Angestellte runzelte die Stirn und überlegte kurz, bevor sie bedauernd den Kopf schüttelte. »Es tut mir sehr leid, wir haben hier in der Nähe kein Schwimmbad«, sagte sie betrübt, als würde sie sich für einen schwerwiegenden Mangel ihrer Nation entschuldigen.
    Tsukuru ging auf sein Zimmer, zog die dicken Vorhänge zu und zog sich aus und ging zu Bett. Obwohl er die Helligkeit ausgesperrt hatte, stahl sich das Licht doch von irgendwoher in den Raum, wie eine alte Erinnerung, die sich nicht so leicht auslöschen lässt. Er starrte im Halbdunkel an die Decke und dachte, wie seltsam es war, dass er Kuro statt in Nagoya in Helsinki besuchte. Das eigentümliche Licht der nordischen Sommernacht rief eine sonderbare Unruhe in ihm hervor. Sein Körper verlangte nach Schlaf, aber sein Geist war hellwach.
    Dann dachte er an Shiro. Er hatte schon lange nicht mehr von ihr geträumt. Früher war das häufig geschehen. Meist waren es erotische Träume gewesen, in denen er in ihr gekommen war. Wenn er nach dem Aufwachen im Bad seine Unterwäsche auswusch, hatten ihn stets die kompliziertesten Gedanken heimgesucht. Ein schwer zu trennendes Gewirr aus Schuldgefühlen und leidenschaftlicher Sehnsucht. Eigentümliche Empfindungen, wie sie nur an dunklen, unbekannten Orten entstanden, wo Realität und Wahn sich im Verborgenen mischten. Auch jetzt überkam ihn Sehnsucht nach Shiro. Wenn er sie doch bloß ein einziges Mal wiedersehen könnte, und sei es nur im Traum.
    Irgendwann schlief er ein, doch sein Schlaf blieb traumlos.

15
    Um sieben wurde er geweckt. Er hatte das Gefühl, lange und tief geschlafen zu haben, und er empfand eine angenehme Lethargie, die ihn nicht verließ, bis er geduscht und rasiert war und sich die Zähne geputzt hatte. Der Himmel war von einer lückenlosen Wolkenschicht bedeckt, aber es sah nicht nach Regen aus. Tsukuru zog sich an und nahm im Speisesaal des Hotels ein leichtes Frühstück zu sich.
    Um kurz nach neun machte er sich auf den Weg zu Olga. In dem kleinen Büro, das an einer steilen Straße lag, saß außer ihr noch ein schlaksiger Mann mit runden Fischaugen und telefonierte. An den Wänden hingen bunte Poster von verschiedenen Orten

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