Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
in Finnland. Olga händigte Tsukuru mehrere Ausdrucke von Karten aus. Wenn man von Hämeenlinna ein Stück am See entlangfuhr, kam man in den kleinen Ort, in dem das Sommerhaus der Familie Haatainen lag. Sie hatte es mit einem X markiert. Der See setzte sich in langen, schmalen Windungen fort und wirkte fast wie ein Kanal. Wahrscheinlich hatte er sich im Laufe von Zehntausenden von Jahren durch Gletscherbewegungen immer weiter ins Erdreich gegraben.
»Der Weg ist leicht zu finden«, sagte Olga. »Finnland ist ja nicht Tokio oder New York. Bei uns gibt es nicht viel Verkehr, und wenn Sie den Straßenschildern folgen und nicht mit einem Elch zusammenstoßen, können Sie es gar nicht verfehlen.«
Tsukuru bedankte sich.
»Ich habe einen Wagen für Sie gebucht, einen Golf, der erst zweitausend Kilometer auf dem Tacho hat. Sie sind sogar ein bisschen mit dem Preis runtergegangen.«
»Danke, das ist wunderbar.«
»Hoffentlich klappt alles. Wo Sie doch extra nach Finnland gekommen sind«, sagte Olga und lächelte. »Falls es Probleme gibt, rufen Sie mich an.«
»Mache ich«, sagte Tsukuru.
»Passen Sie auf die Elche auf. Es sind dumme Tiere. Fahren Sie nicht zu schnell.«
Die beiden verabschiedeten sich mit Handschlag.
Beim Autoverleih bekam er einen neuen, dunkelblauen Golf, und die Angestellte erklärte ihm, wie er vom Zentrum auf die Autobahn kam. Er müsse ein bisschen aufpassen, aber die Strecke sei nicht schwierig. Sei er einmal auf der Autobahn, habe er es praktisch geschafft.
Tsukuru fuhr mit einer Geschwindigkeit von etwa hundert Stundenkilometern auf der Autobahn nach Westen, während er auf Ultrakurzwelle Musik hörte. Es störte ihn nicht, dass fast sämtliche anderen Wagen ihn überholten. Er hatte schon länger nicht am Steuer eines Wagens gesessen, und das auch nur bei Linksverkehr. Außerdem wollte er möglichst erst nach dem Mittagessen am Haus der Familie Haatainen ankommen. Er hatte viel Zeit. Kein Grund zur Eile. Auf einem Klassik-Kanal ertönte ein prachtvolles und festliches Trompetenkonzert.
Beide Seiten der Straße waren bewaldet. Er hatte den Eindruck, das ganze Land sei von frischem, üppigem Grün bedeckt. Die meisten Bäume waren Birken, aber dazwischen wuchsen auch Kiefern, Fichten und Ahornbäume. Die Rotkiefern ragten bis hoch in den Himmel hinauf, und auch die Birken waren riesig mit tief hängenden Zweigen. Keine dieser Arten gab es in Japan. Dazwischen wuchsen noch verschiedene andere Laubbäume. Vögel mit großen Schwingen kreisten langsam am Himmel und hielten Ausschau nach Beute. Hin und wieder tauchten die Dächer eines Gehöfts auf. Sie waren von sanften Hügeln umgeben, auf denen Vieh weidete. Das geschnittene Gras war von Maschinen zu großen runden Ballen zusammengebunden worden.
Es war kurz vor zwölf, als Tsukuru in Hämeenlinna ankam. Er stellte den Wagen auf einem Parkplatz ab und schlenderte ungefähr eine Viertelstunde durch den Ort. Dann setzte er sich in ein Café auf dem zentralen Marktplatz, trank einen Kaffee und aß ein Croissant. Es war zu süß, aber der Kaffee war stark und schmeckte ihm. Wie in Helsinki war auch der Himmel in Hämeenlinna von einer dünnen Wolkenschicht bedeckt, durch die die Sonne nur als schwache orangefarbene Silhouette schimmerte. Der Wind, der über den Marktplatz blies, war herbstlich kühl, und er zog einen leichten Pullover über sein Polohemd.
Es waren kaum Touristen unterwegs. Nur Einheimische in alltäglicher Kleidung eilten mit ihren Einkaufstüten über den Platz. Die Geschäfte im Zentrum führten Lebensmittel und Waren, die eher von ihnen oder den Sommerfrischlern benötigt wurden als von Touristen. Am Rand des Marktplatzes stand eine große, gedrungene Kirche mit einem grünlichen Kuppeldach. Ein Schwarm schwarzer Vögel schwang sich wogend von Dach zu Dach. Weiße Möwen schritten gemächlich das Pflaster ab, ohne dass ihren Augen etwas entging.
Unweit des Platzes reihten sich ein paar Obst- und Gemüsestände aneinander; an einem von ihnen erstand er eine Tüte Kirschen. Als er sich auf eine Bank setzte, um sie zu verzehren, stellten sich zwei Mädchen zwischen elf und zwölf Jahren in sicherer Entfernung zu ihm auf, um ihn zu beobachten. Wahrscheinlich gab es nicht viele Ostasiaten in dem Ort. Die eine war dünn und hellhäutig, die andere sonnengebräunt und sommersprossig. Beide trugen Zöpfe. Tsukuru lächelte ihnen zu.
Sie näherten sich langsam wie wachsame Möwen.
»Sind Sie Chinese?«, fragte die Größere
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