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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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das Stück sehr schön gespielt. So gefühlvoll.«
    »Stücke in dieser Länge waren ihre große Stärke. Bei längeren Stücken ging ihr manchmal mittendrin die Kraft aus, aber das war eben ihre Eigenheit. Oft kommt es mir vor, als lebe sie im Leuchten dieses Stücks weiter.«
    Während Yuzu einigen Kindern Klavierunterricht gab, spielten Tsukuru und Ao mit den Jungen Fußball auf dem Hof. Sie bildeten zwei Mannschaften und schossen auf die provisorisch aus Pappkartons errichteten Tore. Tsukuru erinnerte sich an den holprigen Klang der Etüden, die durch das Fenster tönten, während er den Ball abgab.
    Die vergangene Zeit verwandelte sich in einen langen, spitzen Speer, der sich in sein Herz bohrte. Ein stummer silberner Schmerz durchfuhr ihn, ließ sein Rückgrat gefrieren und verwandelte es in einen Pfeiler aus Eis. Der Schmerz blieb lange, ohne stärker oder schwächer zu werden. Tsukuru hielt den Atem an, schloss die Augen und erduldete ihn. Alfred Brendel setzte seine würdige Darbietung fort und ging von Das erste Jahr: Schweiz zu Das zweite Jahr: Italien über.
    In diesem Moment erkannte Tsukuru Tazaki es. Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Menschen verband. Viel tiefer war die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche. Es gab keine Stille ohne den Schrei des Leides, keine Vergebung, ohne dass Blut floss, und keine Überwindung ohne schmerzhaften Verlust. Sie bildeten das Fundament der wahren Harmonie.
    »Weißt du, Tsukuru, sie lebt wirklich in so vielem weiter«, sagte Eri heiser. »Ich kann es spüren. In jedem einzelnen Ton, im Licht, in den Formen und in jedem einzelnen …«
    Eri schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte nicht weitersprechen. Tsukuru wusste nicht, ob sie weinte. Wenn, dann tat sie es völlig lautlos.
    Während Tsukuru und Ao Fußball spielten, taten Eri und Aka ihr Möglichstes, um die übrigen Kinder davon abzuhalten, den Klavierunterricht zu stören. Sie lasen mit ihnen, spielten Spiele oder sangen mit ihnen. Allerdings waren ihre Bemühungen nur selten von Erfolg gekrönt, denn den Klavierunterricht zu stören machte den Kindern einfach viel mehr Spaß als alles andere. Es war ziemlich lustig, den beiden bei ihrem erbitterten Kampf zuzusehen.
    Beinahe ohne es zu merken, stand Tsukuru auf, ging auf die andere Seite des Tisches und legte Eri stumm die Hand auf die Schulter. Sie bedeckte noch immer ihr Gesicht mit den Händen. Als er sie berührte, spürte er, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sehen konnte man es nicht.
    »Tsukuru?«, sagte Eri durch ihre Finger. »Darf ich dich um etwas bitten?«
    »Ja, natürlich«, sagte Tsukuru.
    »Könntest du mich in den Arm nehmen?«
    Tsukuru zog sie von ihrem Stuhl hoch und umarmte sie. Ihre vollen Brüste schmiegten sich an ihn. Er spürte ihre kräftigen, warmen Hände auf seinem Rücken. Ihre weiche, feuchte Wange berührte seinen Hals.
    »Ich werde nie wieder nach Japan zurückkehren«, flüsterte Eri, und er spürte ihren warmen Atem an seinem Ohr. »Denn dort würde mich alles an Yuzu erinnern. Und an unsere –«
    Tsukuru hielt sie fest an sich gedrückt und schwieg.
    Jemand, der draußen vorbeiging, hätte sie sicher durch das offene Fenster sehen können. Edvard und die Kinder konnten jeden Moment zurückkommen. Doch das spielte keine Rolle. Es war egal, was andere dachten. Sie mussten sich umarmen. Sich aneinander schmiegen, um den langen Schatten des bösen Geistes zu vertreiben. Genau dafür war Tsukuru den weiten Weg hierhergekommen.
    Die beiden hielten sich lange umarmt. Der Wind, der vom See herüberwehte, bauschte weiter die weißen Gardinen, Eris Wangen waren noch immer feucht, und Alfred Brendel spielte Das zweite Jahr: Italien . »Petrarca – Sonett 47« und »Petrarca – Sonett 104«. Tsukuru konnte diese Stücke auswendig. Er hätte sie mitsingen können. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie aufmerksam er dieser Musik gelauscht hatte und wie sehr sie sein Herz gefangen hielt.
    Die beiden sprachen nicht. Worte hatten hier keine Macht. Sie hielten sich nur stumm in den Armen, wie zwei in ihrer Bewegung erstarrte Tänzer, und überließen sich dem Fluss der Zeit. Einem Fluss, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart und wahrscheinlich auch die Zukunft mischten. Ihre Körper verschmolzen, und Eris warmer Atem traf in regelmäßigen Abständen auf Tsukurus Hals. Er schloss die Augen, überließ sich ganz der Musik

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