Die Plantage: Roman (German Edition)
ganzen Tag in der City verbringen würde, vertraute er Néné ausdrücklich der Obhut von Mrs. Crawford an.
Auf der Fahrt vom West End in die älteren Stadtviertel wurde ihm bewusst, wie sehr sich London in den letzten Jahren verändert hatte. Die City war eine einzige Baustelle. Der koloniale Reichtum, der aus dem expandierenden Empire zufloss, bewog die Regierung, in großem Umfang öffentliche Bauten in Auftrag zu geben. Namhafte Architekten gaben der Stadt ein neues Gesicht, indem sie dem imperialen Geist der Zeit prunkvolle Denkmäler setzten. Zur gleichen Zeit, neben neuem Glanz und Luxus für die Upper Class, nahm das Elend erschreckende Formen an. Zahllose Bettler lungerten an den Straßenrändern, kriegsversehrte Soldaten boten stumm ihre Verwundungen dar, Frauen ihre verhungernden Säuglinge, Kinder verkauften sichfür einen Bissen Brot. Ein stetiger Zug verarmter Landbewohner strömte täglich durch die Stadttore herein und vermehrte das Heer der Obdachlosen. Selbst unter der Stadt, in den lichtlosen Katakomben der Kanalisation, entstand eine Population der Armut, des Hungers und der Seuchen.
William sah den Prunk und das Elend der alten Welt, und auf einmal sehnte er sich nach Amerika.
Die Droschke hielt vor einem wuchtigen Sandsteinbau, der im vorigen Jahrhundert nach dem großen Brand errichtet worden war. Als William die auf Ashley & Bolton gezeichneten Cheques vorlegte, wurde er von dem Bankangestellten, der die Auslandsgeschäfte leitete, zuvorkommend empfangen.
»Es freut mich, einen Freund Andrew Tylers bei uns begrüßen zu dürfen«, sagte er, nachdem er Tylers Begleitschreiben überflogen hatte. »Beabsichtigen Sie, länger in London zu bleiben, Sir? Dann könnten Sie überlegen, die Summe anzulegen.«
Der Banker hielt ihn für einen Amerikaner. William beließ es dabei und sagte: »Alles hängt davon ab, wie sich die Geschäfte entwickeln.«
»Verstehe. Und was für Geschäfte führen Sie nach England, Mr. Marshall?«
William wollte nicht mehr als nötig preisgeben. Um Zweifel an seiner Bonität zu zerstreuen, aber jegliches Interesse an seiner Person im Keim zu ersticken, gab er eine plausible, wenngleich ernüchternde Erklärung: »Ich beobachte, wie sich der trianguläre Überseehandel nach dem Krieg entwickelt. Sie wissen, von South Carolina verschiffen wir Reis nach London, für den Erlös werden Alkohol, Waffen und Schwarzpulver gekauft. Diese zweite Fracht ist für die Elfenbeinküste bestimmt, zum Tauschhandel gegen afrikanische Sklaven. Diese dritte Fracht geht …«
»Nach South Carolina, wo sich das Dreieck schließt. Sie brauchen es nicht weiter auszuführen.«
Der Banker reagierte so ablehnend wie erwartet; mit einemSklavenhändler aus South Carolina wollte er nichts zu tun haben. Natürlich wusste er zwischen Geschäftlichem und Persönlichem zu trennen und brachte Williams Konteneröffnung zügig zum Abschluss. William verließ die Bank mit gemischten Gefühlen. Wie viele Facetten würde er seiner Identität noch hinzufügen, bevor er wieder er selbst wurde?
Von High Holborn ging er über Lincoln’s Inn Fields und den Strand zum Temple, dem Bezirk der juristischen Kanzleien und Notariate. Die Amtsräume des Notars James Clarke befanden sich in Middle Temple. Das Viertel war ihm vertraut, unbewusst von seinem Ortssinn geleitet, stand er plötzlich vor einem schmucklosen Haus aus dunklem Ziegel. Er nahm die zwei Stufen zum Eingang und las, nur zur Bestätigung, das Messingschild neben der Tür: Thomas Marshall Spencer – Barrister.
Was tat er hier? Er war noch nicht so weit, seinem Bruder gegenüberzutreten. Wie sollte er Thomas erklären, warum er ihn über sein Schicksal im Ungewissen gelassen hatte? Andererseits, wie konnte er noch zögern anzuklopfen? Die Entscheidung nahm ihm ein untersetzter Mann ab, der aus der Türe trat.
»Entschuldigen Sie!«, sagte er, indem er an William vorbei die Stufen hinabeilte und davonging.
Als William aufsah, stand sein Bruder vor ihm.
»Bill!«, stieß Thomas hervor. »Bist du es wirklich? Oh mein Gott, Billy, Junge, du lebst!«
Im nächsten Moment fühlte William sich von starken Armen herangezogen und herzhaft umarmt. Er war sprachlos, gerührt. Es wurde ihm klar, dass er nicht mit Wiedersehensfreude gerechnet hatte. Plötzlich überwältigt, erwiderte er die Umarmung seines Bruders.
»Billy, Billy! Wo bist du nur gewesen?«, rief Thomas, als er ihn wieder freigab. »Komm herein, komm!«
William folgte ihm durch die
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