Die Plantage: Roman (German Edition)
Auf halbem Weg kam ihnen der Arzt entgegen.
»Sie müssen Mr. Marshall dazu bewegen, die Polizei zu benachrichtigen«, redete Dr. Walsh laut auf Ronnie ein. »Der Junge ist vor seinem Tod misshandelt worden, der Vorfall muss untersucht werden. Vielleicht gelingt es Ihnen, Mr. York, Ihren Einfluss geltend zu machen. Guten Tag, Gentlemen.«
Dr. Walsh war kaum außer Hörweite, als Thomas sagte: »Wieso werde ich den Eindruck nicht los, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist?«
Erneut aus seinen Gedanken aufgestört, öffnete William mit düsterer Miene. Thomas trat ohne zu zögern ein und ging an ihm vorbei in den Salon, indem er beiläufig bemerkte: »Mein Lieber, du siehst furchtbar aus!«
William war ihm gefolgt. »Was machst du hier, Thomas? … Warte: Unsere Verabredung zum Lunch! Verzeih, ich hab’s vergessen. Weißt du, ich hatte eine schlechte Nacht …«
»Das habe ich schon gehört. Du erlaubst?« Thomas schenkte sich eine Tasse von dem kalt gewordenen Tee ein und setzte sich in einen Sessel. Die hauchzarte Teeschale in ihrer Untertasse auf dem Knie balancierend, fasste er seinen Bruder, derschweigend am Fenster stand, schärfer ins Auge. »Kannst du mir erklären, warum du in dem Hotel unter dem Namen unserer Mutter als William Marshall bekannt bist? Wenn der junge Mann nicht gewesen wäre, hätte ich dich nie gefunden.«
William setzte sich in einen Sessel ihm gegenüber. Er strich sich mit den Händen kräftig über Stirn und Wangen, um frischer zu werden. »Willst du die ganze Geschichte hören, Thomas?«
Er ließ nichts aus, erzählte vom Krieg, von Spencer, dem Schlächter, und der Green Horse, von heißblütigen Angriffen und wilden Siegesfeiern und schließlich davon, wie sie in den High Hills verraten wurden. Er sprach darüber, was Reed und Roscoe ihm angetan hatten, über Legacy und Antonias verlorene Liebe, über Cornwallis’ Zurückweisung und die Begegnung mit Persephone; er verschwieg nichts und endete bei der vergangenen Nacht, als Nénés Tod ihm die Vergeblichkeit all seines Strebens vor Augen geführt hatte. Thomas hörte ruhig bis zum Ende zu und ließ dann eine Weile schweigend vergehen.
»Ich erinnere mich gut an deinen letzten Besuch, bevor du mit dem Invasionsheer aufgebrochen bist. Du warst ungemein stolz auf deine Beförderung, Billy. Ich glaube, mir ist noch kein Offizier begegnet, der mehr von sich überzeugt war als du damals. Du hast seitdem viel erlebt, und anscheinend sind Dinge geschehen, die dich aus dem Gleichgewicht gebracht haben.«
»Wenn du es so nennen willst.«
»Wie würdest du es denn nennen? Dein Verstand predigt dir Loyalität bis zum letzten Atemzug, obwohl die Erfahrung zeigt, dass du am Schluss auf verlorenem Posten stehst. Und trotzdem hast du alles dafür aufgegeben: dein neues Leben, die Freiheit in einem jungen Land, die Liebe zu Antonia. Die Waagschalen deines Lebens, Herz und Verstand, sind aus der Balance geraten. Dein Verstand hält dich fest, aber dein Herz will fort, und plötzlich …« Er ließ die Teetasse los, sie kippte zu einer Seite,doch er fing sie sicher auf und hielt das zarte Geschirr lächelnd hoch.
William nickte ergeben. »Du hast recht, mein Leben ist aus dem Lot.« Auf einmal klang er ratlos. »Deshalb kam ich auch hierher zurück, um dort wieder anzuknüpfen, wo ich meinen Weg verloren hatte.«
»Aber Billy, das kann nicht funktionieren! Du hast dich verändert. Deine heutigen Ansichten haben mit der Einstellung des Mannes, der du noch vor ein paar Jahren warst, nichts mehr zu tun.« Thomas stand auf, legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Du hast deine englische Seele auf dem Schlachtfeld verloren, du kannst nicht mehr zurück in unser altes Empire. Nach den Jahren in Amerika hast du amerikanisch zu denken gelernt. Als du vorhin über deinen Freund Longuinius und seinen Kampf für die Unabhängigkeit gesprochen hast, Billy, da hättest du die Begeisterung in deinen Augen sehen sollen!«
»Longuinius ist tot«, sagte William. »Am Tage vor seinem Tod hatte ich ihn besucht, aber ich habe nicht bemerkt, wie es um ihn stand. Er hat mir seinen Besitz vermacht, in den High Hills am Santee River.«
»Sieh mal an!« Thomas zog die Brauen hoch. »Was tust du dann noch hier?«
VIII. Oliver Roscoe
33.
Die Tristar fuhr hart am Wind. Von der aufgewühlten See emporgehoben, wies ihr Bugspriet wie ein Speer gegen den Himmel. Gleich darauf neigte sich der Schiffsrumpf wieder steil hinab, in rasender Fahrt
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