Die Plantage: Roman (German Edition)
Jesuitenkonvents von Monte de Funchal. Ringsum bot sich eine atemberaubende Aussicht, nichts als azurblaues Meer unter lichtblauem Himmel, das Panorama eines grenzenlosen Horizonts. Dessen ungeachtet steuerte Roscoe geradewegs auf eine etwa sechs Fuß hohe Mauer zu, die den Innenhof mit der Abteikirche und den Wohngebäuden vom Klostergarten trennte. Nach kurzem Anlauf und einem katzenhaften Sprung saß er rittlings oben auf der Umfriedung des Gartens. Aus der Tasche seines grauen Novizenhabits nahm er ein Fladenbrot, das einer der dienenden Brüder im Refektorium für ihn beiseitegelegt hatte, und aß ein paar Bissen ohne großen Appetit. Ab und an kickte er kleine Steine vom Mauerkranz über den grünen Steilhang, der zur Altstadt und dem Hafen von Funchal abfiel.
Beim letzten vollen Stundenschlag verließen die Jesuitenschüler und Novizen das Kollegiengebäude und strebten in geordneter Eile dem Portal der Konventskirche Nossa Senhora da Incarnacao zu. Ein paar von Roscoes Konnovizen hatten ihn entdeckt und gaben ihm mit Zeichen zu verstehen, er solle sie zum Gottesdienst begleiten. Aber Roscoe hatte entschieden, heute seinem eigenen Zeitplan zu folgen. Er wandte ihnen den Rücken zu, schwang sich lässig von der Mauer und landete in einem gepflegten Garten, den die Gründer des Konvents der Meditation und gläubiger Erbauung gewidmet hatten. An diesem abgeschiedenen Ort gedachte er, den ihm geraubten Schlaf nachzuholen, legte sich zwischen Pflanzbeeten und blühenden Sträuchern ins Gras und schloss die Augen. Mehr denn je glich er einem schlafenden Engel im Garten Eden, und mehr denn je trog der Schein.
Als er zwei Stunden später, vom Schlaf erfrischt, den Garten wieder mit einem Sprung über die Mauer verließ, lag der Klosterhofmenschenleer in der Mittagssonne; höchste Zeit, dass er einen wichtigen Entschluss in die Tat umsetzte. Er lief zu den Wohngebäuden, die zurückgesetzt zwischen der Kirche und der Bibliothek lagen. Das Dormitorium mit der Cella der Novizen schloss hier an die Außenmauer der Anlage. In dem Winkel befand sich ein vergitterter Durchlass, die Porta Benedicta, durch die man das Kloster diskret verlassen und wieder betreten konnte; vorausgesetzt, der Bruder Cellarius hielt einen Mitbruder für vertrauenswürdig genug, ihm den Schlüssel auszuhändigen. Roscoes Vertrauensvorschuss in der Konventgemeinschaft hatte sich schon bald nach seiner Ankunft auf ein absolutes Minimum reduziert. Trotzdem war er im Besitz des Schlüssels und nutzte die Pforte, wann und wie es ihm gefiel.
Die Aufnahme von Fra Miguel war für die frommen Brüder eine Zumutung. Anfangs hofften alle, er würde sich nach einer Eingewöhnungszeit der Ordensregel beugen und ins Klosterleben einfügen. Doch die Bemühungen der Confratres versagten bei diesem Novizen, dessen Gleichgültigkeit noch die erträglichere Seite seines Charakters darstellte. Roscoe zeigte nicht das geringste Verständnis für die drei heiligen Gelübde der Regularkleriker, die da sind Armut, Keuschheit und Gehorsam, und begegnete jeglicher religiösen Unterweisung mit aggressivem Widerwillen. Hingegen bewies er eine ausgeprägte Neigung für alles, was für die Brüder unter den Begriff Lasterhaftigkeit fiel, und waltete in der Cella Novitiorum wie der Fuchs im Hühnerstall. Er wurde im Kolleg nur noch geduldet, weil der Prior ein gutartiger Mann war und den jungen americano zur tieferen Seelenbildung für die Mission auserkoren hatte. Die Ablehnung indes beruhte auf Gegenseitigkeit; Roscoe hielt sich der mönchischen Gemeinschaft weitgehend fern. Vor allem dachte er nicht daran, sich von den Jesuiten auf einen ihrer Außenposten in Südamerika schicken zu lassen.
Mehr denn je war ihm bewusst, dass er an einen Wendepunkt seines Lebens gelangt war. Im Auge des Orkans hatte er seinenTod gesehen, doch das Meer hatte ihn wieder ausgespien. In einem kahlen Niemandsland am Ende der Welt hatte Miguel traurige Wochen in Gegenwart von Menschen verbracht, die außer der Armut nur ihren spröden Glauben kannten und die mit dem naufrage Espagnol , dem schiffbrüchigen Spanier, nichts zu tun haben wollten. Sein Leben schien zum Stillstand gekommen. Er sprach nicht mehr, vertat die Tage am einsamen Strand, indem er mit Tränen in den Augen aufs graue Meer starrte. Als er glaubte, vor lauter Unglück sterben zu müssen, schickte man ihn zum Jesuitenkolleg nach Madeira. Da begriff Roscoe, dass er eine zweite Chance bekam: Er würde nach Amerika
Weitere Kostenlose Bücher