Die Plastikfresser
einmal Schritte im Schnee.
An der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Holztür. Die Tür war verschlossen. Gerrard fluchte – dann lächelte er: nach diesem Aufstieg schien ihm eine verschlossene Tür nur noch ein lächerliches Hindernis. Er blickte sich um. Unter dem Schnee halb versteckt, lehnte eine Leiter an der Wand. Er schleppte sie durch den Hof, lehnte sie gegen die Mauer, kletterte hoch und ließ sich auf der anderen Seite auf den Boden fallen. Die Schmerzen machten sich wieder bemerkbar, als er sich zwischen dunklen, immergrünen Büschen aufrappelte. Ein Park – aber wo?
Er schwankte durch die Büsche und stieß auf ein Eisengitter, das den Zugang zu einer Straße versperrte. Gerrard starrte benommen durch das Gitter auf die Straße. Irgendwie ein vertrauter Anblick: eine breite Straße mit einem Mittelstreifen, mit Parkuhren und Parkbuchten. Dazwischen Statuen. Die Straße teilte sich, wo er stand, und die Fahrbahnen führten links und rechts um den sanft ansteigenden Park herum.
Plötzlich rückten sich in seinem Gedächtnis die Bilder zurecht – Portland Place! Natürlich! Weiter unten war das Gebäude der BBC. Weiter oben Regents Park. Aber etwas stimmte nicht – auf eine unheimliche Weise.
Er blickte auf die Uhr: Fünf!
Fünf Uhr! Siebzehn Uhr! Fünf Uhr nachmittags! Wo war der Verkehr? Oder war es doch fünf Uhr morgens? Nein, dann wäre es dunkel. Es mußte Nachmittag sein. Und doch … Da mußten doch Autos auf den Parkplätzen stehen! Es standen keine Autos auf den Parkplätzen. Kein Verkehr, kein Verkehrslärm, nur ein fernes Rauschen – Verkehr irgendwo weit weg. Und keine Lichter in den Büros, in den Häusern. So weit er sehen konnte, keine Menschenseele!
Er kletterte das Gitter hoch und ließ sich auf die Straße hinuntergleiten. Der Schnee auf dem Bürgersteig war unberührt, nicht eine einzige Fußspur, nur zwei oder drei Fahrspuren von grobgerippten Reifen auf der Fahrbahn.
Er marschierte in Richtung Portland Place und hielt sich in der Mitte zwischen den beiden Reihen Parkuhren und mied instinktiv die leere Fahrbahn. Er schlug die Arme um seinen Körper um sich warm zu halten, erreichte im Dauerlauf den Oxford Circus; seine Blicke wanderten immer wieder über die leeren Häuserwände – nirgends Licht. Die ganze Straße war tot, verödet, leer wie nach einem Atomangriff, und der Frost biß sich durch seinen nassen Anzug.
Als er die Upper Regent Street erreichte, kaum noch fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war ihm, als bewege er sich durch eine Geisterstadt. Vor den Fenstern waren die Rolladen heruntergelassen, alle Türen geschlossen und verriegelt.
Er kam an einem Musikgeschäft vorbei, an einem Kino, einem Restaurant. Er blieb stehen und blickte hoffnungsvoll durch die Scheiben, aber die Speisen, die dort sonst unter Glas ausgestellt wurden, waren alle weggeräumt worden. Verschwunden war das dänische Zuckergebäck, die Rumpuddings und die Schokoladentorten. Die blitzblanken Stahlregale gähnen nackt und leer. Fäulnisgeruch lag in der Luft.
Plötzlich registrierten seine erschöpften Sinne eine Bewegung hinter ihm. Er fuhr herum. Schräg gegenüber stand eine Tür offen und dort stand ruhig und gelassen ein Mann. Stolpernd lief Gerrard auf ihn zu.
Weil der Schnee so hoch lag, hörte Ackermann ihn nicht herankommen. Erst als Gerrard schon fast vor ihm stand, fuhr er herum, ging automatisch in Kampfstellung und wollte nach der Pistole in seiner Tasche greifen. Menzelos und Alford erschienen im selben Augenblick in der offenen Tür.
Gerrard rang nach Luft, er war am Ende seiner Kräfte. Um Halt zu suchen, griff er nach Ackermanns Arm. Er bemerkte nicht, daß Ackerman ihn zurückzog, bemerkte auch nicht die Blicke der drei Männer, die mißtrauisch sein Gesicht studierten.
»Ich war … eingeschlossen … Muß sie ’rausholen … Sind noch immer da unten …«
Eine Welle der Übelkeit überspülte ihn, er verlor den Boden unter den Füßen. Alford fing ihn auf und lehnte ihn gegen die Wand.
»Er hat uns hier gesehen.« Ackerman deutete auf das Juweliergeschäft.
»Das arme Schwein ist doch völlig kaputt«, sagte Alford. »Wenn wir ihn einfach liegen lassen, ist er sowieso hin.«
»Nein«, sagte Menzelos entschieden. »Den nehmen wir mit. Zu mir.«
»Du willst … Was?«
»Du hörst doch, was ich sage, oder? Den können wir gut gebrauchen. Wir tragen ihn, faßt mit an.«
Wenig später, in Menzelos Wohnung, saß Gerrard zusammengekauert in
Weitere Kostenlose Bücher