Die Poison Diaries
Rosenblätter auf den Kopf streue.« Mit einem Knall klappt er die Tasche zu. »Und dafür muss ich meine Studien unterbrechen! Selbst wenn ich die Fähigkeiten eines Hippokrates hätte, was dann? Könnte die Weisheit von Jahrtausenden einen sorglosen Tölpel davon abhalten, sich eine Axt auf den Fuß fallen zu lassen?«
Weed atmet schnell und rasselnd. Dann rennt er aus dem Haus. Einige Augenblicke später kommt er zurück. Sein Gesicht ist aschfahl und in der Hand hält er einen kleinen Strauß aus Stängeln und Blättern. Wortlos reicht er ihn Vater.
Vater starrt ratlos auf die Pflanzen. »Raute? Farn? Kamille? Das sind gewöhnliche Kräuter, die am Wegesrand wachsen. Was soll ich damit?«
»Machen Sie einen Umschlag daraus. Er wird eine Entzündung verhindern, und die Wunde kann besser heilen«, sagt Weed mit leiser Stimme. »Gegen die Schmerzen … nehmen Sie Mohn, gemischt mit Baldrian. Der Mann hat gewiss Angst – Lavendel und Kamille werden ihn beruhigen.« Seine Stimme wird zu einem Flüstern. »Und … wenn er abgenommen werden muss …«
»Wenn der Fuß abgenommen werden muss, ist das Sache des Wundarztes, und diese Metzger benutzen nur eine Medizin: Whiskey«, knurrt Vater. »Whiskey und starke Lederriemen.«
»Keinen Whiskey. Etwas Belladonna – nicht zu viel. Nur zwei Beeren vermengt mit Schierlingssamen und schwarzem Bilsenkraut. Dann wird er schlafen.«
»Schlafen!«, ruft Vater entgeistert. »Während einer Amputation? Unmöglich! Das einzige Rezept für ein solches Schlafmittel ging vor Jahrhunderten verloren …«
»Nur zwei Beeren! Ich weiß, dass Sie welche haben. Der Mann wird eine Nacht und einen Tag lang schlafen, und wenn er erwacht, ist das Schlimmste vorbei.«
Vater lässt seine Tasche zu Boden fallen und tritt ganz nah an Weed heran. Sie sind beinahe gleich groß, aber Vater ist zweimal so breit. Mein Mund wird trocken. Was hat Vater vor?
»Woher weißt du all das?«, zischt Vater durch die zusammengebissenen Zähne. »Sag mir,
Doktor
Weed – wem hast du diese geheimen Rezepte gestohlen? Hm?« Seine Hand hebt sich; einen Augenblick lang fürchte ich, er werde Weed packen und schütteln.
Weed starrt ihn an. Seine bodenlos tiefen grünen Augen glitzern vor Trotz. »Gehen Sie zur Sägemühle«, sagt er. »Sie sollten keine Zeit verlieren.« Dann lässt er die Blätter und Stängel aus seiner offenen Hand zu Boden fallen, dreht sich um und geht zur Tür hinaus. Ich laufe zu Vater und nehme seinen Arm. Die Ader auf seiner Stirn pocht, und seine Lippen sind zu einem zornigen weißen Strich verzogen.
»Vater, sei nicht böse«, flehe ich. »Er versucht nur zu helfen.« Auf Händen und Knien sammele ich die Blätter und die gebrochenen Stängel ein und reiche sie Vater.
Langsam erlangt Vater seine Selbstbeherrschung wieder. Er nimmt mir die Kräuter aus der Hand, greift nach seiner Tasche und seinem Beutel und geht zur Tür.
»Warte!« Ich laufe in Vaters Arbeitszimmer und stelle mich auf die Zehenspitzen, um das Glas mit Belladonna-Beeren auf dem obersten Regalbrett zu erreichen. Das Glas wie einen Säugling in den Armen haltend, renne ich zurück in den Salon.
»Hier, Vater – die Belladonna-…«
Vaters wiedergewonnene Gelassenheit ist mit einem Schlag dahin.
»Jessamine!
Hast du den Verstand verloren?«
»Nimm welche mit, Vater. Für den Fall, dass der Mann sie braucht. Weed sagte zwei, nur zwei Beeren …«
Ich mühe mich mit dem Deckel ab. Dabei rutschen meine Hände ab … der Glasbehälter entgleitet mir …
»Nein!« Vater greift zu, ehe das Glas zu Boden fallen und zerbrechen kann. Ich nehme es ihm wieder aus der Hand, schüttele zwei Beeren in mein Taschentuch und binde es zu einem engen Bündel.
»Nimm sie mit, Vater. Bitte«, flehe ich. »Tu, was Weed gesagt hat. Du wirst es nicht bereuen.«
Mit einem leisen Fluch auf den Lippen nimmt mir Vater die Beeren aus der Hand. Mit einer groben Bewegung schiebt er sie und die zerzausten Blätter und Stängel in seinen Beutel und stürmt aus dem Haus.
***
Nachdem Vater gegangen ist, suche ich Weed und finde ihn im Kräutergarten. Still sitzt er zwischen den Pflanzen. Ich bringe ihm etwas Wasser. Er nimmt es mit einem Blick voller Dankbarkeit, aber er sagt kein Wort, und mir bleibt keine andere Wahl, als ihn in Ruhe zu lassen. Eine Stunde vergeht, dann eine zweite. Ich könnte schwören, dass ich ihn von Zeit zu Zeit leise sprechen höre – aber mit wem?
Spät an diesem Abend gehe ich mit der Kerze in der
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