Die Poison Diaries
Teich. »Er ist verschlossen«, sagt er, wie ein Echo von Vaters Stimme, »und das aus gutem Grund.«
Die Ader auf Vaters Stirn pocht – einmal, zweimal –, dann steht er abrupt auf und stößt seinen Stuhl vom Tisch weg.
»Das war ein hervorragendes Mahl, Jessamine. Hab Dank dafür. Jetzt muss ich mich wieder meiner Arbeit widmen, wie du dich der deinen.« Seine Stimme klingt beherrscht, aber die Finger seiner rechten Hand zucken beim Sprechen. »Ich wünsche euch beiden eine gute Nacht.«
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, verlässt Vater den Raum. Das Mahl, das er gelobt hat, liegt halb verzehrt auf seinem Teller.
»Vater hält sich nie lange bei Tisch auf. So ist er nun einmal«, sage ich zu Weed, um meine Verlegenheit über Vaters Verhalten zu überspielen. »Aber du darfst natürlich bleiben und so viel essen wie du möchtest.«
Weed nickt. Er hat seinen eigenen Teller bereits leer gegessen. Nun greift er über den Tisch zu Vaters Teller. Einen Moment lang hängt die Hand bewegungslos in der Luft, dann sinkt sie nieder und greift sich mit einer zarten Bewegung eine Lammkeule am Knochen.
»Ein hervorragendes Mahl, Jessamine.« Noch einmal wiederholt er wortwörtlich, was mein Vater sagte: »Das war ein hervorragendes Mahl. Danke.«
Er isst die Reste von Vaters Portion. Ich schaue ihm zu, erfüllt von einem fremdartigen Gefühl der Zufriedenheit, und denke:
Jessamine, Jessamine, Jessamine.
Zum ersten Mal hat er meinen Namen ausgesprochen.
Kapitel 7
22 . April
Ich habe so viel zu tun und kaum Zeit, irgendetwas aufzuschreiben. Der Garten blüht und gedeiht wie nie zuvor, und ich muss mir Mühe geben, um mit ihm Schritt zu halten.
Ich bin froh, dass Weed hier ist, um mir zu helfen.
D er April ist ein Wunder, jedes Jahr aufs Neue – zwischen dem Morgen und dem Abend sehe ich, wie sich der Garten verändert, wie die Knospen aufbrechen, die Blätter sich entfalten und neue, zartgrüne Triebe an den verholzten Stängeln des letzten Jahres sprießen. Aber in ganz Northumberland gibt es nichts, was so groß und herrlich wächst wie Weed.
In knapp einem Monat ist er volle zehn Zentimeter gewachsen. Inzwischen überragt er mich bereits, und es sieht so aus, als würde er noch weiter in die Höhe schießen. Vaters Hosen muss er nicht länger umkrempeln. Seine Glieder sind schlank und stark wie Weidenzweige.
Sein schwarzes Haar ist immer noch ungebändigt, denn das ist seine Natur. Die dunklen Augenbrauen wölben sich zu zwei Halbmonden, die seinen unglaublich grünen Augen etwas Nachdenkliches verleihen.
Der Mund ist veränderlich – manchmal breit grinsend, manchmal weich und voll.
Seine Zähne sind so weiß wie Schneeflocken. Seine Haut, einstmals totenbleich, ist golden von der Sonne.
Wenn ich nur einen Herzschlag lang glauben würde, dass Weed mich auf die gleiche Art sezieren und mustern würde wie ich ihn, Stück für Stück – Augen, Lippen, Nase, Wangen –, und sei es auch nur insgeheim, würde ich mich in Grund und Boden schämen. Ich dagegen empfinde mein Verhalten nicht als ungebührlich. Der Grund dafür liegt darin, dass ich es gewohnt bin, alles, was ich sehe, zu beobachten und zu notieren: das Wetter, die Pflanzen, die Veränderung in den Gärten. Die Dinge wahrzunehmen, die mich interessieren, ist mir zur zweiten Natur geworden, und nichts ist für mich so interessant wie die Stunden, die ich mit Weed verbringe. Und daher kann ich gar nicht anders, als den Versuch zu wagen – und dabei vermutlich jämmerlich zu versagen! –, ihn in allen Einzelheiten zu beschreiben, als ob er eine unbekannte Pflanze wäre, die Vater in seinem Beutel mit nach Hause gebracht hat.
Ich schreibe bei Kerzenlicht über ihn, oben in meinem Schlafzimmer, während er unten im Vorratsraum in tiefem Schlummer liegt. Je mehr ich mich abmühe, dieses einzigartige Geschöpf zu beschreiben, desto näher scheint er mir, als ob er hier neben mir stehen würde. Ist es närrisch, mich nach ihm zu sehnen, wenn ich doch weiß, dass wir am Morgen wieder zusammen sein werden?
Manchmal glaube ich, dass der Morgen niemals kommen will.
***
Fast jeden Tag, wenn die Arbeit getan ist, unternehmen Weed und ich lange Wanderungen. Er scheint genau zu wissen, wie man einen Garten zum Blühen und Wachsen bringt, obwohl seine Ratschläge manchmal seltsam anmuten. Heute Morgen erklärte er, dass die Weinraute viel besser gedeihen würde, wenn sie so weit wie möglich vom Lavendel entfernt stünde. Als ich ihn nach dem
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