Die Poison Diaries
ist, aber ich sehe seine Hand, die auf dem Rand des Korbs ruht. Meine Trauer verwandelt sich in kalten Zorn.
»Was bist du doch für ein Ungeheuer!«, zische ich ihm ins Ohr. Dann wende ich mich ab und renne über die Brücke davon. Diesmal kann ich nicht die Abkürzung durch die Burg nehmen, denn ich würde mich ohne fachkundige Führung hoffnungslos im Labyrinth der Gänge verirren. Ich muss den weiten Weg außen herum gehen, über die schlammigen Wiesen, die an die Burgmauer angrenzen, bis ich wieder auf die Straße stoße.
Ich habe das Stadttor hinter mir gelassen und bin schon halb die Market Street hinuntergerannt, als Weed mich endlich einholt. Er jagt mir nach, ruft wieder und wieder meinen Namen, fleht mich an, stehenzubleiben und ihn anzuhören. Aber ich verschließe meine Ohren mit Zorn und Schmerz. Ich bin so wütend auf ihn, und auch auf mich selbst, weil ich so verwirrt bin.
Das ist Weed, vor dem du davonläufst, derselbe Weed, für den du so viel empfindest – wie kannst du dich jemandem an den Hals werfen, der so herzlos ist? Aber trotzdem – trotz allem – verzehrst du dich nach ihm, sehnst dich danach, von ihm in den Arm genommen und geküsst zu werden, selbst jetzt noch …
Dann hat er mich eingeholt und packt mich am Arm. Sein Griff ist hart. Ich schreie auf vor Schmerz.
»Bitte vergib mir – du musst mir vergeben, Jessamine! Bitte versuche mich zu verstehen. Ich weiß, dass ich dir kalt vorkomme oder absonderlich – aber ich weiß nicht, wie man fühlt, was du fühlst. Du wirst es mir beibringen müssen …«
»Ich glaube, du fühlst gar nichts!«, schreie ich ihm entgegen. »Jedenfalls sind es keine echten Gefühle. Das Leiden eines Gänseblümchens rührt dich zu Tränen. Aber ein Kind – ein totes Kind – lieber Himmel, Weed, du bist ein Monster!«
Er zuckt zusammen, als hätte ich ihn geschlagen.
»Ich bin kein Monster«, flüstert er rau. »Aber ich bin anders als du, Jessamine. Anders als alle Menschen. Ich sehe Dinge … höre Dinge …«
»Das tue ich auch! Ich sehe sehr wohl, dass du Dinge weißt, die du unmöglich wissen kannst! Ich höre dich sprechen, wenn niemand bei dir ist. Ich fühle, dass du etwas vor mir verbirgst, selbst wenn du mich in deinen Armen hältst.« Ich will mich von ihm losreißen, aber er hält mich eisern fest. »Ich ertrage das nicht länger! Sag mir, was du bist, Weed, oder scher dich fort aus meinem Leben!«
Er lässt mich los und steht mit hängenden Armen vor mir. Eine Windböe verwirbelt seine Haare, und die ersten Regentropfen fallen aus dem sich rasch verdunkelnden Himmel. »Also schön«, sagt er nach einer kurzen Weile. »Ich werde dir sagen, was du wissen willst. Morgen bei Tagesanbruch werde ich dich hinaus zu den Wiesen bringen. Dort sollst du alles erfahren.«
Er schaut hinauf in den dunkelgrauen Himmel. »Und dann wirst du mich wahrhaftig für ein hassenswertes Monster halten«, fügt er hinzu, dreht sich um und geht mir voraus, hinein in den heraufziehenden Sturm.
Kapitel 11
I m ersten Licht der Morgendämmerung verlassen wir leise das Haus. Vater schläft noch. Wenn er aufwacht und merkt, dass wir fort sind, wird er dann schlecht von uns denken? Doch unwillkürlich finde ich die Antwort in meinem Herzen: Es spielt keine Rolle, was Vater denkt.
Weed sagt nicht, wohin er mich bringen will. Aber abgesehen von der frühen Stunde unterscheidet sich dieser Spaziergang in nichts von jedem anderen. Wir erreichen eine Wiese, nicht allzu weit vom Haus entfernt, und setzen uns in das taubenetzte Gras. Ohne sich um die Nässe zu kümmern, legt sich Weed auf den Rücken, drückt seinen ganzen Körper gegen die Erde.
Ich lasse mich neben ihm nieder. Die Kälte des Bodens verursacht mir eine Gänsehaut. Vielleicht liegt es auch an meiner unruhigen Erwartung. Was für eine schreckliche Wahrheit will er mir eröffnen? Muss ich mich fürchten? Vielleicht, aber meine Neugier und meine Erregung sind stärker als meine Angst.
Endlich spricht Weed.
»Auf unserem Spaziergang, hast du da das Gras gesehen?«, fragt er. »Die Bäume? Den Löwenzahn? Die Rapsfelder?«
»Ja, gewiss.«
»Kannst du sie hören?«
Er muss das sanfte Rauschen meinen, wenn der Wind durch das Gras fährt oder mit den Blättern spielt. »Ja«, erwidere ich. »Wenn der Wind weht, dann höre ich sie.«
»Aber du hörst sie nicht in Worten, nicht wahr?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ich schon«, sagt er. »Ich höre alles, was sie sagen.«
»Ich verstehe
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