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Die Poison Diaries

Die Poison Diaries

Titel: Die Poison Diaries Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maryrose Wood
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nicht …«
    Er hebt die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen, und stützt sich auf einen Ellbogen. »Schau dort drüben, in den Schatten unter der Hecke. Siehst du die Blätter, die sich wie eine Matte ausbreiten, das frische Grün, das schon bald mit Blüten übersäht sein wird?«
    »Das ist Fingerhut«, sage ich und richte mich ebenfalls ein Stück auf. »Vater schickt mich manchmal aus, um die Blätter zu sammeln. Sie sind ihm nützlich bei seiner Arbeit, und die wilden Pflanzen sind besser als die, die in unserem Garten wachsen.«
    »Sie mögen nicht gezähmt werden, das stimmt.« Er legt den Kopf schräg, als würde er lauschen. »Und sie sind sehr eitel, wenn sie in voller Blüte stehen.« Er duckt sich leicht, als ob er getadelt worden wäre. »Wozu sie auch das Recht haben, wie sie mir soeben mitgeteilt haben.«
    Treibt Weed ein Spiel mit mir? Ich drehe mich so, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann. »Was sagen sie jetzt?«
    Zögernd erwidert er meinen Blick. »Sie sagen, dass sie dich kennen. Du hast oft hier in ihrer Nähe gelegen, in den Armen des Wiesengrases. Ich sei hoffentlich nicht eifersüchtig, sagen sie. Und sie finden dich sehr hübsch. Zu hübsch.« Wieder lauscht er. »Jetzt werden sie unhöflich. Es scheint, als ob nun
sie
eifersüchtig werden. Du solltest in naher Zukunft keine Blätter pflücken; du würdest vermutlich einen Ausschlag bekommen.«
    Er ist verrückt
, denke ich unglücklich.
Das ist ein wahrhaft teuflisches Geheimnis. Es sei denn … es sei denn, es stimmt, was er behauptet – und wenn das der Fall ist … lieber Gott, was würde Vater zu einer solchen Macht sagen? Das Wissen direkt von der Natur selbst zu erfahren!
Aber weiter kann ich nicht denken. Stattdessen zwinge ich mich, ruhig und gelassen zu sprechen, als ob ein gemütlicher Plausch mit Blättern und Blüten die normalste Sache auf der Welt wäre.
    »Ist das bei allen Pflanzen so?«, frage ich und bemühe mich, das Zittern aus meiner Stimme zu verbannen.
    »Jede ist anders«, erklärt er zögernd. »Wenn ich mich konzentriere, kann ich die meisten von ihnen hören – manchmal nur Schreie und Stöhnen, oder als ständiges, leises Geplapper. Aber die Pflanzen, in denen Heilkräfte stecken, höre ich am deutlichsten. Sie haben sich schon immer an mich gewandt, solange ich denken kann.«
    »Sich an dich gewandt?«, rufe ich aus. »Wie kann sich eine Pflanze an dich wenden?«
    »Sie sprechen mich an. Das müssen sie auch, denn wenn kein Mensch von ihrer Kraft wüsste, könnten sie niemandem nützlich sein. Sie brauchen mich«, erklärt er schlicht. »Sie haben mich auserwählt, weil ich sie hören kann, oder vielleicht kann ich sie hören, weil sie mich auserwählt haben. Ich habe es nie wirklich verstanden. Aber so ist es.«
    Die Stille zwischen uns wächst, beladen mit dem Gewicht von Weeds Enthüllung. Ich weiß nicht, was ich denken oder sagen soll – kann diese Geschichte wirklich wahr sein?
    Nach einer Weile fährt er fort: »Ich war etwa vier oder fünf Jahre alt, als mir klarwurde, dass nicht jedermann hören kann, was ich höre. Anfangs hielten mich alle für ein merkwürdiges, in sich gekehrtes Kind mit zu viel Phantasie. Später fingen die Leute an zu glauben, ich sei besessen und eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Ich lernte, meine Gabe zu verbergen. Aber das ist nicht leicht. Manchmal treibt es mich schier in den Wahnsinn. Die Stimmen sind immer da; sie summen, schwatzen, singen, necken, warnen. Von Zeit zu Zeit muss ich mich ihnen entziehen, aus Angst, den Verstand zu verlieren.« Er lächelt schief. »Die Pflanzen selbst lehrten mich, was ich tun muss: Ich vergrabe mich, wenn ich meine Kräfte sammeln muss. Sie tun genau das Gleiche: Sie kehren in die Erde zurück, um sich auszuruhen und von neuem zu wachsen.«
    Plötzlich begreife ich. »So, wie du es tatest, als du zu uns kamst und dich im Keller versteckt hast?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon zu kennen glaube.
    »Ja.« Er legt sich wieder auf den Rücken und schaut in den Himmel. »Als ich einmal dem frommen Bruder Bartholomew davonlief – und das geschah viele Male –, schaffte ich es bis zum Hafen und versteckte mich auf einem Schiff. Ich dachte, auf hoher See wäre ich all die Stimmen los. Aber ich habe mich geirrt. Selbst das Meer ist voll von pflanzlichem Leben. Wusstest du das? Manche Pflanzen dort sind so winzig, dass man sie kaum sehen kann, aber die rotten sich zu grünen Laken zusammen, die auf den Wellen schwimmen.

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