Die Poison Diaries
bin?«
Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. »Es war ganz sicher falsch, mich zu küssen, wenn es dir nichts bedeutet!«, rufe ich.
»Jessamine! Es tut mir leid – bitte weine nicht!«
Aber es ist zu spät. Meine Gefühle ergießen sich in einem Regen aus Tränen über mein Gesicht. »Was soll das heißen, dass du nicht
geeignet
bist?«, keuche ich zwischen zwei Schluchzern. »Magst du mich denn gar nicht?«
»Aber natürlich mag ich dich!«, empört er sich. Trotz meiner Tränen erkenne ich den Schmerz in seinen Augen. Und die Überraschung. »Und du magst mich also auch?«
»Ja«, sage ich. »Ja, das tue ich.«
Mehr kann ich nicht sagen, denn er küsst mich, aber diesmal anders. Dieser Kuss ist keine zarte Frage, sondern der besitzergreifende Kuss von jemandem, der weiß, dass seine Gefühle erwidert werden. Der süße Geschmack von Honig und Apfelwein vermischt sich auf unseren Lippen. Mein schneller schlagendes Herz rauscht mir in den Ohren, wie der Wind im Gras, wie die Brandung des Meeres.
Nach einer herrlichen Ewigkeit, so will mir scheinen, löst er sich von mir und betrachtet mich. Sein Blick ist so voller Unschuld, wie der eines ungezähmten Wesens – gänzlich ohne Falsch und gleichzeitig voller Geheimnisse.
»Weed«, sage ich und lächle durch meine Tränen. »Du bist wirklich einzigartig.«
»Ja«, sagt er düster. »Ich weiß.«
***
Der nächste Morgen bringt eine neue Überraschung mit sich: Vater bittet uns, in Alnwick etwas für ihn zu erledigen – nicht in der Stadt, sondern in der Burg. Ich bin aufgeregt, da ich erst wenige Male in dem hochherrschaftlichen Gemäuer war.
Weed zeigt sich von alldem völlig unbeeindruckt, aber er freut sich, dass er mich auf der Reise begleiten darf. Ich frage mich kurz, ob Vater Weed eigentlich allein schicken wollte, ihm aber womöglich seine kostbaren Arzneien nicht anvertrauen mag – denn daraus besteht unser Auftrag: Wir müssen ein Fiebermittel zu einer Dienerin des Herzogs bringen.
Der Fußmarsch nach Alnwick dauert etwas länger als eine Stunde, eine harmlose Entfernung für geübte Wanderer wie Weed und mich. Aber im Osten braut sich ein Sturm zusammen, und der Wind bläst böig vom Meer. Wir machen uns früh auf den Weg und schlagen einen strammen Schritt an, in der Hoffnung, nach Hause zurückkehren zu können, bevor das Unwetter losbricht. Als wir an der Kreuzung ankommen, bleibt Weed stehen.
»Norden, Süden, Osten, Westen«, sagt er leise. »Vier Richtungen, in die man davonlaufen könnte. Aber alles, woran ich jetzt noch denken kann, ist, dass ich in Hulne Abbey bleiben möchte. Bei dir.«
»Darüber bin ich froh«, sage ich einfach. Meine Freude wahrhaftig in Worte fassen kann ich nicht.
»Es scheint, als hätte ich Wurzeln geschlagen«, ergänzt Weed, als wir uns der Straße nach Süden zuwenden.
***
Je näher wir Alnwick kommen, desto mehr Menschen begegnen uns.
»Heute muss Markttag sein«, sage ich und ziehe mir den Schal um den Kopf. »Schade, dass wir nicht länger bleiben können.«
»Warum nicht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Vater wünscht nicht, dass ich mich unters Volk mische. Als ich jünger war, fürchtete er immer, dass ich sein Wissen ausplaudern würde. Jetzt hat er wohl eher Sorge, dass man mich für eine Hexe halten könnte.«
Wir schieben uns eilig durch die Menschenmenge und gehen durch die gepflasterten Straßen zu dem Stadttor, das zur Burg führt.
»Vater hat mich ein- oder zweimal in den Bergfried mitgenommen, vor vielen Jahren, kurz nachdem Mutter gestorben war und er niemanden hatte, der zu Hause auf mich aufpasste«, erklärte ich. »Er kommt hierher, um in der Bibliothek des Herzogs Forschungen anzustellen.«
»Und das erlaubt der Herzog?«
»Als Lohn für seine Dienste, ja. Vor Jahren bot ihm der Herzog die alte Kapelle als Wohnhaus an, dazu noch ein jährliches Einkommen, wenn Vater die Bewohner von Alnwick kostenlos behandeln würde. Vater meinte, dass die Kapelle bloß eine Ruine sei und er somit kein schlechtes Gewissen habe, das Angebot anzunehmen, solange man ihm gestatten würde, rundherum seine Gärten anzulegen. Und er hätte lieber Zugang zur Bibliothek anstatt einer Bezahlung … Oh, Weed. Da ist die Burg – schau!«
Die Straße hat uns zum Fuß eines mit Wildblumen bewachsenen Hügels geführt. Über uns thront die uralte, Ehrfurcht gebietende Pracht von Alnwick Castle.
»Ja«, murmelt Weed, der seine Augen unverwandt auf den Boden gerichtet hat. »Es ist
Weitere Kostenlose Bücher