Die Poison Diaries
Sie summten wie Bienen, die ganze Zeit. Es war ohrenbetäubend. Ich wäre fast verrückt geworden.« Abrupt setzt er sich auf. »Jessamine, glaubst du mir?«
Ich zaudere. Was er da beschreibt, klingt unmöglich, unfassbar – aber habe ich nicht selbst schon manches Mal gedacht, ein Flüstern in dem Rauschen der Blätter zu vernehmen, oder die stille Kraft gespürt, die von den Bäumen im Wald ausgeht? Und er ist Weed. Er ist nicht wie alle anderen. Was für andere unmöglich ist, muss nicht unbedingt auch für ihn unmöglich sein.
»Ich glaube dir«, sage ich.
Er betrachtet mich lange und durchdringend. Einzigartig zu sein, ständig von Stimmen angesprochen zu werden, die sonst niemand hören kann – ich dachte, ich wüsste, was Einsamkeit ist, aber jetzt wird mir klar, dass ich noch nicht einmal ansatzweise ihr wahres Ausmaß begreifen kann.
»Und was ist mit den Pflanzen im Giftgarten?«, frage ich plötzlich. »Sie sind anders, nicht wahr?«
Er schweigt einen Moment und schaut zur Seite. »Ja. Sie sind mächtig. Herzlos. Sie wollen besitzen.«
»Was besitzen?«
»Mich. Dich. Jedermann. Das ist ihre Natur.« Eine besorgte Falte gräbt sich in seine Stirn. »Dein Vater spielt mit dem Feuer, wenn er sie auf diese Art und Weise versammelt. Sie sind viel zu klug. Sie schließen Bündnisse. Sie entwickeln … Ehrgeiz.«
Er schaut so düster drein, dass ich seine Ängste zerstreuen möchte. »Du machst dir bestimmt zu viele Sorgen«, sage ich leichthin. »Immerhin sind sie fest in der Erde verwurzelt, nicht wahr? Sie können sich nicht losreißen und herummarschieren und Tod und Verderben verbreiten wie eine heranrollende Armee.«
»Vielleicht«, sagt er, aber er klingt nicht überzeugt. »Ich bin ihresgleichen noch nie zuvor begegnet, das ist alles. Es verstört mich.« Er breitet die Arme aus. »Und nicht nur mich. Der Wald, die Felder, das Moos, das auf den Steinen wächst – keiner ist glücklich über diesen Garten. Die Natur hätte all diese Pflanzen in sicherem Abstand voneinander gehalten, weit verstreut über die Kontinente, getrennt durch die Meere. Aber dein Vater hat sie aus allen Winkeln der Erde hierher gebracht und sie zusammen eingeschlossen, Seite an Seite, versteckt hinter Mauern, wo sie im Geheimen wachsen und gedeihen können. Es ist falsch, Jessamine. Es ist gefährlich …«
»Dann versprich mir etwas«, unterbreche ich ihn, denn ich merke, wie seine Erregung wächst. »Versprich mir, dass du diesen schrecklichen Ort niemals wieder betrittst. Wenn er dich dermaßen entsetzt, kann nichts Gutes daraus erwachsen.«
»Ich verspreche es.«
Wir verstummen. Der Morgen hat sich nun gänzlich auf der Welt niedergelassen. Man kann fast das Zischen des Dampfes hören, der sich aus dem Gras erhebt und in der Luft verschwindet.
Ich schaue mich um. Wiesen, Bäume, Hecken, hier und da Büschel wilder Blumen. Ich schließe meine Augen und lausche. Blätter rascheln in der Brise. Vögel singen. Mein eigener Atem, der kommt und geht. Sonst nichts.
»Du hast recht, Jessamine«, ruft Weed mit plötzlicher Bitterkeit aus. »Ich bin ein Monster!«
»Nein!« Ich strecke die Arme nach ihm aus. »Bitte vergib mir, Weed. So etwas hätte ich nie sagen dürfen. Ich war zornig, weil ich die Wahrheit nicht kannte. Du hast eine Gabe. Eine kostbare Gabe.«
»Du bist der erste Mensch, der das so sieht.« In seiner Stimme liegen sowohl Trauer als auch Wut.
»Wem sonst hast du davon erzählt?«, frage ich beunruhigt.
»Bruder Bartholomew. Ich war nur ein Kind und wusste es nicht besser. Er glaubte mir nicht. Er bemitleidete mich und dachte vermutlich, ich sei geistig verwirrt. Aber jetzt ist er tot.«
»Aber du hast diesen besonderen Tee für Pratts Patienten gebrüht, nicht wahr?«, bedränge ich ihn. »Und was ist mit den Dorfbewohnern?«
»Ich war ein Narr.« Seine Finger spielen fast zärtlich mit den Grashalmen. »Ich wollte helfen. Und ich verabscheute Pratt und wollte ihm eine Lehre erteilen. Und die Pflanzen baten mich darum. Sie möchten ihre Fähigkeiten einsetzen – genauso wie wir Menschen.«
Er schweigt kurz und fährt dann fort: »Ich weiß jetzt, dass es falsch war, etwas in den Brunnen zu gießen. Aber damals waren die Dorfbewohner für mich nicht so wirklich wie all das hier.« Sein Blick umfasst alle wachsenden Dinge, die uns umgeben. »Du hast mich schon so vieles gelehrt, Jessamine. Dein Schmerz gestern auf der Burg, der Schmerz der anderen, der Schmerz dieser Mutter – das war
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