Die Poison Diaries
spielt keine Rolle. Ich habe keine andere Wahl: Ich muss hineingehen.«
»Ich wünschte, du würdest mir erlauben, dich zu begleiten.« Beunruhigt steht er zwischen mir und dem Tor. »Es gibt so viele Pflanzen dort drinnen, seltene und tödliche Pflanzen – du solltest nicht allein mit ihnen sein.«
»Nein.« Meine Stimme ist rau vor Ungeduld. »Ich muss allein gehen. Ich kann es Ihnen nicht erklären.«
»Wie du willst.« Er dreht sich um und löst die Kette aus dem Schloss. Er zögert. »Wenn Jessamine erst einmal gerettet ist, wirst du mir vielleicht den Grund sagen.«
»Wenn Jessamine gerettet ist«, wiederhole ich tonlos. Mein Herz rast. Von drinnen ruft mich der Hexensabbat zu sich, sanft und widerlich süß, wie der Gesang von Sirenen.
Weed … Weed …
»Vergiss nicht«, ermahnt er mich. »Fass nichts an. Wenn du dich krank fühlst, rufe mich sofort. Ich werde hier am Eingang auf dich warten.«
Weed …
»Ich muss jetzt hineingehen«, sage ich. »Bitte treten Sie beiseite.«
Luxton verstellt mir noch immer den Weg. »Du liebst sie doch, nicht wahr, Weed? Das Leben meiner Tochter liegt in deinen Händen. Ich muss wissen, ob du mit deinem Herzen bei ihr bist!«
»Natürlich liebe ich sie.« Meine Wut kocht hoch. Ich habe keine Zeit, um hier zu stehen und zu schwatzen. Meine Jessamine liegt im Sterben, und die, die sie retten können, rufen nach mir. Ich will sie nicht länger warten lassen.
»Dann viel Glück.« Mit grimmigem Blick stößt Luxton das Tor auf.
***
Hallo? Ach da sind Sie – ich wusste doch, dass jemand hier ist. Warum verstecken Sie sich?
Ich wollte dich willkommen heißen, dich aber nicht erschrecken. Ich fürchtete, du könntest es merkwürdig finden, wenn ich so plötzlich auftauchen würde.
Alles kommt mir merkwürdig vor. Erst ging es mir gut. Dann wurde ich krank, und jetzt – ich weiß nicht, was ich jetzt bin. Aber ich kann fliegen.
Flügel zu haben ist herrlich. Meine sind groß und schwarz, wie die eines Raben. Deine sind hauchdünn wie Spinnwebfäden. Sie schillern ganz entzückend im Licht.
Wir haben Flügel? Wie wunderbar! Aber wer sind Sie? Und was ist das für ein seltsamer, trüber Ort? Ist es der Himmel oder die Hölle? Leben wir oder sind wir tot?
So viele Fragen! Ich werde sie nach besten Kräften beantworten: Ich lebe, allerdings nicht so, wie du es gewohnt bist. Du bist weder lebendig noch tot, sondern irgendetwas dazwischen. Himmel und Hölle bedeuten mir nichts; du wirst selbst entscheiden müssen, was von beidem dieser Ort mehr ähnelt.
Sie haben immer noch nicht gesagt, wer Sie sind.
Unter meinesgleichen bin ich ein Prinz.
Ein Prinz! Sie machen mich verlegen. Außer dem Herzog von Northumberland bin ich noch niemandem von Adel begegnet, und selbst in Anwesenheit des Herzogs war ich zu schüchtern, um das Wort an ihn zu richten.
Unsinn. Du bist der Inbegriff von Grazie und Charme, und so voller Schönheit wie eine Rosenknospe in der Dämmerung.
Das ist ein hübsches Kompliment. Herzlichen Dank! Verzeihen Sie mir meine Unwissenheit: Über welches Gebiet herrschen Sie, Majestät?
Du bist schon da gewesen, Jessamine, wiewohl nicht für lange. Erkennst du mich nicht?
Es tut mir leid. Aber ich bin im Augenblick zu durcheinander. Ich glaube, ich habe viele Dinge vergessen, wichtige Dinge. Und woher wissen Sie meinen Namen?
Du musst dich nicht entschuldigen. Wir haben alle Zeit der Welt, um einander kennenzulernen. Ich bin Oleander, der Giftprinz.
***
Das Tor zum Apothekergarten schließt sich mit einem lauten Scheppern hinter mir, das wie eine Totenglocke nachhallt.
Das letzte Mal, das ich einen Fuß in den Garten setzte, verschloss ich meinen Geist vor den Stimmen. An diesem Tag ging Jessamine neben mir, war mein Anker, meine Führerin, mein Licht.
Jetzt gebe ich mich ganz hin, und nicht nur das: Bewusst lasse ich mich in das dunkle Reich der Gifte fallen. Ich lasse mich von dem Nebel umwabern, bis alle Spuren menschlicher Existenz verloschen sind. Es fühlt sich tatsächlich an, als würde ich fallen, und ich weiß nicht, ob – und wenn ja, wie – ich den Weg zurück finden werde.
Ich schaue mich im Giftgarten um. Der Anblick ist mir vertraut, und doch ist er anders. Ich sehe alles durch einen dünnen, silbernen Vorhang. Nur die Pflanzen treten deutlich hervor, so hart und nackt wie Knochengerippe.
»Er ist gekommen!«, erklingt die Stimme eines Kindes. »Wir haben ihn so oft gerufen, und jetzt ist er da!«
Ich erinnere mich an die
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